Russlands Symbol für Stärke

31.1.2018, 20:37 Uhr
Russlands Symbol für Stärke

© Michael Matejka

Herr Professor Stadelmann, "Stalingrad" galt in Deutschland lange als Opfergang Hunderttausender deutscher Soldaten, die auch an der Stärke und Gewalt der sowjetischen Gegenwehr gescheitert seien. Allmählich verblasst dieser "Mythos Stalingrad", viele Jüngere verbinden mit dem Ortsnamen nichts mehr. Wie blicken die Russen heute auf Stalingrad?

Stadelmann: In Russland ist das ganz anders. Der Sieg im Zweiten Weltkrieg hat einen ganz zentralen Platz in der russischen Erinnerungskultur, und da spielt Stalingrad als "Wende", bei der die Kurve von der Verlierer- zur Siegerstraße vollzogen wurde, eine wichtige Rolle. Stalingrad steht für den unbedingten Verteidigungswillen der sowjetischen, das heißt heute vor allem russländischen Bevölkerung, für die unbezwingbare Stärke Russlands, für die aus Patriotismus gespeiste Kraft seiner Bewohner, natürlich auch für die Opfer und das Leid, das dem Land von außen aufgezwungen wurde.

All das sind auch im heutigen Russland bestimmende mentale Kategorien. Stalingrad ist ein sehr wichtiger und weithin wahrgenommener historischer Identifikationsort für Russlands Gesellschaft mit nach wie vor stark einheitsstiftendem Potenzial. Zwar heißt die Stadt heute Wolgograd, aber das historische Stalingrad ist präsent, so sehr, dass man etwa zum 70. Jahrestag der Schlacht die Stadt für mehrere Festtage offiziell in Stalingrad zurückbenannte.

Die Russen mussten ja auch weit höhere Verluste hinnehmen als die Deutschen – da steht Stalingrad für den ganzen Krieg, oder?

Stadelmann: Das ist richtig. Im Erinnerungsort Stalingrad verdichten sich die mehr als 25 Millionen Kriegsopfer, die die Sowjetunion zu beklagen hatte. Gleichzeitig weist Stalingrad aber eben auch nachhaltig auf den späteren Sieg Russlands im Krieg hin, auf die Kampfbereitschaft, auf den Willen, sich trotz entsetzlicher Verluste niemals aufzugeben.

Die quantitative Dimension ist dabei aber längst nicht alles, so monströs die Opferzahlen auch sind. Es geht um ein grundsätzlich anderes Verhältnis zur eigenen Vergangenheit, zum Zweiten Weltkrieg, auch zu jenem ja keineswegs besonders menschenfreundlichen Regime unter Stalin, das die Sowjetunion in jener Zeit geführt hat. Die Ortsbezeichnung "Stalingrad" hebt den Namen des sowjetischen Führers ja immer wieder hervor und stellt, zumindest unterschwellig, einen Zusammenhang her zwischen der Niederringung des zur Vernichtung gekommenen Gegners und Stalin.

Eine Stadt, die an einen brutalen Diktator erinnert: Gäbe es so etwas in Deutschland, würde sie vielleicht "Hitlerburg" heißen. Undenkbar bei uns – warum in Russland nicht?

Stadelmann: Nun gut, die Stadt heißt ja seit 1961 auch nicht mehr Stalingrad, sondern Wolgograd. Es ist der historische Erinnerungsort, den "Stalingrad" bezeichnet. Aber Sie haben schon recht, vor einigen Jahren gab es auch eine von 50 000 Menschen unterschriebene Petition, die die Rückkehr von der Wolga zu Stalin im Stadtnamen forderte. Wir haben in Russland einen gänzlich anderen Umgang mit dem Diktator als in Deutschland. Dazu kann man sicherlich auf die unterschiedlichen Dimensionen des Verbrechens bei Hitler und Stalin verweisen.

Ein entscheidenderer Grund aber ist, dass es in der sowjetisch-russischen Geschichte keinen klaren Bruch gegeben hat wie in Deutschland. Stalins Herrschaft endete nicht wie diejenige Hitlers mit einem völligen Zusammenbruch; im Gegenteil: das Stalinsche Erbe bestimmte den Fortgang der Sowjetunion im 20. Jahrhundert: der Sieg im Krieg, der (Wieder-)Aufstieg zur Weltmacht, die Umgestaltung zu einem Industriestaat, die Entstehung eines Sowjetpatriotismus, der neue Stolz auf die russische Vergangenheit etc. Zwar distanzierte man sich schon seit den 1950er Jahren von "einzelnen", auch schweren "Verfehlungen" des Diktators, doch sein Kurs blieb im Grundsätzlichen als "richtig" anerkannt.

Daran hat sich wenig geändert, auch wenn heute in Russland viel mehr über die Dimensionen der Verbrechen der Stalin-Zeit bekannt ist. Diese Aufarbeitung steht aber nicht im Fokus der historischen Betrachtung. Abgesehen von einigen Intellektuellen, Aktivisten und Historikern kann die Bevölkerung mit dieser "Nestbeschmutzung", wie man sich mitunter ausdrückt, nicht viel anfangen. Lieber erinnert man sich an die positiven Dinge der Stalin-Zeit, das Negative verdrängt man oder nimmt es als Kollateralschäden in Kauf: Wo gehobelt wird, fallen Späne . . .

Nur eine kleine deutsche Delegation ohne Promis ist nun beim Gedenken in Wolgograd dabei. Ist das der richtige Umgang mit dem Jubiläum?

Stadelmann: Definitiv nicht. Es entspricht auch nicht dem Selbstverständnis der Bundesrepublik, die gerade durch intensive Aufarbeitung und klare Bekenntnisse zu Schuld und Verbrechen in der deutschen Vergangenheit große Stärke gewonnen hat, dass man sich nun aus politischen Gründen zu einem selektiven Gedenken herablässt, nur weil man vielleicht gerade mit der russischen Regierung "nicht kann" oder sich anderen Konstellationen mehr verpflichtet fühlt.

Was meinen Sie mit "selektivem Gedenken"?

Stadelmann: Mit selektivem Gedenken meine ich den Umstand, dass man einem so wichtigen Ereignis der jüngeren deutsch-russischen Vergangenheit mit weitgehender Nichtrepräsentanz begegnet, obgleich doch die kritische, bekennende und aufarbeitende Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus mit ihren Verbrechen zentraler Bestandteil der deutschen Identität ist. Ich halte es für unangebracht, aus tagespolitischen Gründen das Gedenken an den vom Deutschen Reich initiierten Vernichtungskrieg im Osten tief zu hängen, und würde dazu raten, mehr Gespräche zu suchen, gerade auch, was unterschiedliche Formen von Gedenken und Geschichtspolitik angeht.

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