Das Bangen um Boateng geht weiter

24.6.2016, 15:36 Uhr
Die Wade zwickt weiter: Ob Jerome Boateng am Sonntag gegen die Slowakei spielen wird ist immer noch fraglich.

© A3399/_Arne Dedert Die Wade zwickt weiter: Ob Jerome Boateng am Sonntag gegen die Slowakei spielen wird ist immer noch fraglich.

Flankiert von Arzt und Physio strampelte Jérôme Boateng auf dem Fahrradergometer. Bei den dosierten Belastungen wichen "Doc" Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt und Christian Huhn im Fitnesszelt nicht von der Seite des verletzten Abwehrchefs. Jede Bewegung wurde beobachtet, jede Maßnahme wird mit den Medizinern abgestimmt.

Vor dem Achtelfinale am Sonntag gegen die Slowakei werden Bundestrainer Joachim Löw, der medizinische Stab und der Spieler selbst die knifflige Entscheidung fällen müssen: Soll Boateng in Lille auflaufen? Oder schont Löw die Führungskraft besser für ein mögliches großes Viertelfinale gegen Italien oder Spanien?

Die Szenen vom Freitag im Stade Camille Fournier, in dem der 27 Jahre alte Boateng später auf einem Nebenplatz auch noch einige Laufrunden an der Seite von Fitnesscoach Shad Forsythe drehte, hob den besonderen Stellenwert des 62-maligen Nationalspielers hervor. Der Innenverteidiger hat seine Rolle als Schlüsselfigur für Löw durch bislang starke EM-Auftritte untermauert.

Beim 2:0 gegen die Ukraine wurde Boateng nach einem spektakulären Rettungssprung mit Landung im eigenen Tor als Athlet gerühmt. Nach dem 0:0 gegen Polen rüttelte er als Anführer mit gewohnt ruhiger Stimme, aber doch sehr klaren Worten das Team wach. Und seit seiner Auswechslung beim 1:0 gegen Nordirland sorgen sich nicht nur die DFB-Verantwortlichen um die Wade des Defensivstars.

Kultfigur und Führungsspieler 

Für die Fans ist Boateng zu einer Kultfigur aufgestiegen – und das als Verteidiger. Wie wenige Weltmeister ist Boateng in der Fußball-Nationalmannschaft kaum zu ersetzen. Seine ohnehin schon große Popularität schnellte beim Turnier in Frankreich weiter in die Höhe. Bloß nichts riskieren müsste eigentlich Löws Maxime lauten. Denn auch der Bundestrainer weiß: Eine Verschlimmerung der Muskelverletzung würde mit ziemlicher Sicherheit das Turnier-Aus für Boateng bedeuten.

"Das Wichtigste ist, dass er in seinen Körper hineinhorcht und in engem Austausch mit der medizinischen Abteilung steht", empfahl Teamkollege Manuel Neuer und warnte: "Falscher Ehrgeiz ist der falsche Ratgeber." Der lange unterschätzte Boateng ist Führungsspieler jener DFB-Elf, die bei der WM in Südafrika erstmals auf großer Bühne auftrumpfte. Bei den Turnieren 2010 und 2012 half er als Außenverteidiger aus, erst links, dann rechts.

Auch bei der WM 2014 startete er auf der ungeliebten Position ins Turnier. Im triumphalen Finale trumpfte Boateng  beim 1:0 gegen Argentinien mit einer grandiosen Vorstellung auf seiner Paradeposition in der Abwehrmitte auf. Seitdem ist er dort gesetzt, kein Trainer der Welt würde ihn mehr nach außen verschieben. Auch abseits des Rasens ist der Modellathlet eine Ausnahmeerscheinung.

Der Tattoo- und Brillenfan wurde von einem Männermagazin zum modischsten Deutschen gekürt, die Sneakersammlung mit mehreren hundert Paaren ist eindrucksvoll. Ungewöhnlich: Der Weltmeister lässt sich mit dem Ziel, eine globale Marke zu werden, von Star-Rapper Jay Z managen. Welch ein Aufstieg des gebürtigen Berliners, dessen Geschichte aus den Anfangsjahren im Fußball-Käfig in Berlin-Wedding immer wieder erzählt wird.

Vom hitzigen Temperament zum Ruhepol

Der dunkelhäutige Boateng, dessen Vater aus Ghana kommt und dessen Mutter Deutsche ist, wurde in der EM-Vorbereitung wegen seiner Herkunft ungewollt zur Person in einer politischen Debatte. Die Aussage von AfD-Politiker Alexander Gauland, dass Deutsche zwar Boateng als Nationalspieler schätzen würden, aber nicht neben ihm wohnen wollten, ließ der Hüne aber kühl an sich abperlen.

Gelassenheit dieser Art war Boateng auf dem Platz lange fremd. Doch der frühere Profi von Hertha BSC, dem Hamburger SV und Manchester City hat gelernt, bei allen Emotionen sein Temperament auf dem Spielfeld weitgehend zu zügeln. Der Vater der Zwillingstöchter Soley und Lamia ist ein unerschütterlicher Ruhepol in der Defensive. Sowohl beim FC Bayern als auch in der Nationalmannschaft.

Beim deutschen Rekordmeister sind die Bosse froh, dass Boateng dort seinen Vertrag bis 2021 ausgeweitet hat. Die EM-Auftritte neben seinem künftigen Club-Abwehrpartner Mats Hummels und vor Welttorhüter Neuer verdeutlichen einmal mehr, dass die Münchner künftig vor dem eigenen Tor eines der besten Bollwerke der Welt stehen haben.

Dazu sind beide Innenverteidiger enorm stark in der Spieleröffnung. Boateng ist im Nationalteam einer der Kandidaten auf die Nachfolge von Bastian Schweinsteiger im Kapitänsamt. Die Binde sei immer etwas Besonderes, sagte er selbst schon öfter. Als erster Farbiger das Amt innezuhaben, das wäre für ihn eine "Riesenehre". Kurzfristig aber zählt nur eins: Fit werden für die K.o.-Duelle bei der EM-Endrunde.

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