Der Club und wie schmerzhaft Fußball sein kann

10.5.2014, 05:58 Uhr
Leiden gewohnt: Beim Club treiben Abstiege mittlerweile nur noch den Jüngsten die Tränen in die Augen.

© Daut Leiden gewohnt: Beim Club treiben Abstiege mittlerweile nur noch den Jüngsten die Tränen in die Augen.

Wie weh tut Fußball? Andreas Köpke lud dazu ein, sich selbst ein Bild zu machen. „Wenn ihr weinende Männer sehen wollt, schaut in unsere Kabine“, sagte der Nürnberger Nationaltorwart im Mai 1994 im Dortmunder Westfalenstadion. Gerade war der 1.FC Nürnberg, nach erstmals gleich acht Jahren Erstklassigkeit, aus der Bundesliga abgestiegen, zum vierten Mal. Ein einziger Punkt hatte am Ende gefehlt.

Die Annahme, ein neuer Tiefpunkt der turbulenten Vereinsgeschichte sei erreicht, erwies sich indes als hoffnungslos optimistisch. Ein Jahr später stand der 1.FC Nürnberg schon wieder als Absteiger fest, diesmal aus der zweiten Liga — ehe Dresden und Saarbrücken die Lizenz entzogen wurde. „Schlimmer kann’s nicht werden“, vermutete Mittelfeldspieler Michael Wiesinger. Noch ein Irrtum: Der Weg endete ein Jahr später, 1996, doch in Ditzingen, Egelsbach und Weismain. In der Regionalliga Süd.

Jetzt, am Samstag, kann es ein Rekord werden. Der 1.FC Nürnberg könnte zum achten Mal aus der Bundesliga absteigen, das ist noch keinem Verein passiert. Den Absturz in die dritte Liga 1996 mitgerechnet, wären es dann so viele Abstiege wie Meistertitel: neun.

Ein ironisches Zitat

Die Silberschale ging zuletzt 1968 nach Nürnberg, 1969 folgte der Absturz, der bis heute einzigartig ist. Es traf den deutschen Meister. Als der noch junge deutsche Profifußball in den Siebzigern das Laufen richtig lernte, geriet der Altmeister ins Stolpern. Einen einzigen Titel gewann der 1.FC Nürnberg nach 1968 noch, den DFB-Pokal 2007 — es mutete beinahe wie ein ironisches Zitat aus der Historie des ewigen Auf und Ab an, dass 2008 der siebte Abstieg folgte. Es war der rätselhafteste von allen, professionelle Analysten beschäftigen sich bis heute damit. Sämtliche Spieldaten wiesen Trainer Hans Meyers Pokalsieger sogar als eine der besseren Mannschaften der Liga aus.

Aber kaum ein Abstieg ist wie der andere. Ein Hauch von Größenwahn führte zum ersten, „eine Bauernkapelle“ nannte Trainer Max Merkel die Achtundsechziger, „ein Symphonieorchester“ wollte er dirigieren, der Wiener sah den Verein vor einer goldenen Zukunft. Merkel baute das Team radikal um, wurde dann selbst beurlaubt — aber auch ein zweiter Trainerwechsel, interessante Parallele zur aktuellen Saison, half nichts mehr.

In neun langen Jahren in der Zweitklassigkeit ging viel Substanz verloren, der einmal verpasste Anschluss ließ sich nicht wiederherstellen. Dem ersten Aufstieg 1978 folgte der zweite Abstieg, 1980 kehrte man für vier Jahre zurück, ehe es 1984 mit einem ebenfalls bis heute gültigen Rekord wieder abwärts ging: Der Club, der zweimal den Trainer tauschte, holte auswärts nicht einen einzigen Punkt.

Heitere Fahrt ins Chaos

Wieder war Nürnberg nach nur einem Jahr zurück, wieder sollten folgen: große Jahre, Träume von einer goldenen Zukunft, ein tiefer Fall. Präsident Gerd Schmelzer und Trainer Heinz Höher bauten ein junges Team auf, das 1988 in den Europacup stürmte, man sah sich, vor der Kulisse des schönen neuen Frankenstadions, bereits in der Rolle eines Herausforderers des FC Bayern München — war aber machtlos, als die reiche Konkurrenz die Leistungsträger abwarb.

Nürnberg hielt verzweifelt an schönen Utopien fest. Der Trainer-Genius Höher wurde zum glücklosen Manager gemacht und dann entlassen. Der neue Trainer Hermann Gerland und Schmelzer lagen sich gewaltig in den Haaren, bis der bärbeißige Gerland monierte, der Präsident solle „seine Glatze nicht vor jede Kamera“ halten. Rasiert wurde Gerland und im April 1990 gefeuert. Als 48 Stunden später, bei Champagner und Lachsschnittchen, der holländische Weltmann Arie Haan als Nachfolger präsentiert wurde, begann eine heitere Fahrt ins Chaos, ein Realitätsverlust Merkel’schen Ausmaßes. Die frühen Neunziger: teure Geschenke an Schiedsrichter, die schwarze Kasse des später zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilten Schatzmeisters Ingo Böbel, Punktabzüge wegen Verstößen gegen Lizenzauflagen. Es ging, trotz wieder zweier Trainerwechsel, 1994 zurück in Liga zwei für Köpkes weinende Männer, rund 23 Millionen Mark Schulden hatte man darüber angehäuft.

Wieder, wie schon in den Siebzigern, begann eine Ära ohne Nürnberg, die Ära der totalen Fernsehvermarktung. Der Club spielte in Weismain und Ditzingen. Ganz erholt hat sich der Verein davon bis heute nicht. Aus der drittklassigen Regionalliga stieg der Club zwar in einem Zug erneut in die Bundesliga auf, aber die sportliche Entwicklung unter Trainer Felix Magath hatte die wirtschaftliche überholt. Im Mai 1999 endete das Bundesligaglück wieder einmal nach nur einem Jahr — jäh und legendär.

Man hatte bereits zur großen Party geladen und die Blaskapellen bestellt, aber dann kam Freiburg und machte die Musik. Am letzten Spieltag rutschte Nürnberg von Rang zwölf auf Platz 16, diesmal standen sogar dem fünf Monate zuvor zurückgeholten Torwart-Heros Andreas Köpke die Tränen in den Augen. Nach dem Aufstieg 2001 mit Trainer Klaus Augenthaler waren es zwei Jahre Bundesliga; mit Trainer Wolfgang Wolf ging es 2004 wieder nach oben — diesmal für vier Jahre, ehe sich das ewige Schicksal für die Pokalsieger erfüllte. Jetzt sind es schon fünf Jahre Bundesliga, aber das bekannte Schlussbild zeichnet sich ab. Weinende Nürnberger Männer. Am Samstag auf Schalke.

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