EM-Silber: Gina Lückenkemper "fand es richtig geil"

9.8.2018, 05:56 Uhr
Kurz nach dem Gewinn der EM-Silbermedaille: Gina Lückenkemper präsentiert sich freudestrahlend ihren Fans.

© Hendrik Schmidt, dpa Kurz nach dem Gewinn der EM-Silbermedaille: Gina Lückenkemper präsentiert sich freudestrahlend ihren Fans.

Gina Lückenkemper redet über Picasso, über den Lymphomaten und über ihren Filmriss im Olympiastadion. Sie strahlt, obwohl sie zwischen der Feier im Deutschen Haus und ihrem Auftritt im Morgenmagazin des ZDF keine drei Stunden geschlafen haben kann. Ihr gegenüber sitzen Journalisten, die mit einer Pressekonferenz um 8.30 Uhr nach einem rauschhaften Abend offensichtlich größere Probleme haben als die Sportlerin.

Es geht locker zu, so wie man sich das vorstellt, wenn Menschen auf eine Ausnahmeerscheinung treffen, die auch ihre berufliche Relevanz sichert, ein wenig zu locker vielleicht. Doch plötzlich antwortet "das Geschenk des Himmels für die Leichtathletik" voller Nachdruck, beinahe aggressiv.

"Das ist es nicht wert"

"Ich erkläre es den Menschen ganz einfach: Ich könnte meinem Körper Doping niemals zumuten, ich könnte es meinem Kopf niemals zumuten und ich könnte es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, meinen Körper mutwillig zu zerstören für eine Medaille. Das ist es mir einfach nicht wert."

Man kann wunderbar mit Gina Lückenkemper plaudern, am Dienstagabend hat sie 34.880 Menschen unterhalten – wichtig aber sind diese drei Sätze. Sie wurde gefragt, wie sie es erklärt, dass sie nur der Leistung nach in einer Reihe mit Katrin Krabbe steht. Nach ihrer Antwort muss man Doping nicht mehr thematisieren, ihre Antwort hat sie so klar und unmissverständlich formuliert, dass sie offenbar daran gemessen werden will. Für die Leichtathletik ist das vielleicht noch bedeutender als ihr gutes Aussehen, ihre Eloquenz.

Die Leichtathletik ist nicht angestaubt, sie ist zeitlos schön – nur lässt sich das über Instagram und Twitter schwer transportieren. Gina Lücken-kemper soll die Menschen an die Schönheit erinnern, sie soll die Leichtathletik retten. Und auch dieser großen Aufgabe stellt sie sich mit großer Euphorie, so wie sie sich am Dienstagabend der bislang größten Herausforderung ihrer jungen Karriere gestellt hat.

Als sie in ihren Startblock stieg, hätte es eigentlich ruhig sein sollen. Vor ihren Kurzeinsätzen brauchen Sprinter totale Ruhe – alle Sprinter außer Gina Lückenkemper. "Es war ja überhaupt nicht ruhig. Von überall her habe ich meinen Namen gehört und als ich schon im Block saß, hat noch einer geschrien: Lückenkemper! Und ich hab mir nur gedacht: Ja!" So war es und so erzählt sie es, vielleicht ist das ihr Geheimnis. "Ich fand’s richtig geil."

Mehr kann sie nicht mehr erzählen. An den schlechten Start – die 21-Jährige hatte im Endlauf die mit großem Abstand schlechteste Reaktionszeit –, ihre Aufholjagd, an all das hat sie keine Erinnerung mehr. "Ich weiß nichts mehr von diesem Rennen. Totaler Filmriss. Ich habe nichts mehr wahrgenommen, mich einfach nur ins Ziel geschmissen." Da musste sie dann kurz warten, bis erst die Britin Dina Asher-Smith als überlegene Europameisterin in 10,85 Sekunden bestätigt und dann neben ihrem Namen die Platzziffer "2" erschien. Plötzlich fiel die Anspannung von ihr, Lückenkemper brach in Tränen aus. "Man kann versuchen, sich das vorzustellen. Aber ich kann euch sagen: So geil, wie es war, das kann sich gar keiner vorstellen," erzählt sie.

Formanstieg nachvollziehbar

Bei 10,98 Sekunden ist die Uhr für Lückenkemper stehengeblieben, zum zweiten Mal an diesem Abend, im Halbfinale war sie zweieinhalb Stunden zuvor mit einem besseren Start exakt genauso schnell gewesen. Es war das erste Mal in diesem Sommer, dass sie die Elf-Sekunden-Grenze unterboten hatte, sie war auf die Sekunde in Bestform, noch ein Indiz, dass die schnellste deutsche Frau seit der mit Clenbuterol aufgefallenen Katrin Krabbe tatsächlich ein reines Gewissen hat. Suspekt wäre es, wenn sie im Mai, im Juni und im Juli bereits in diese Bereiche vorgestoßen wäre.

Lückenkempers Formanstieg aber ist nachvollziehbar, ebenso ihre Leistungsentwicklung. Wie schnell sie glaubt, noch rennen zu können, soll sie noch sagen. Sie weiß es nicht, "aber es wäre schon schade, wenn ich mit 21 Jahren schon an der Spitze meiner Karriere angekommen wäre".

Es gibt Trainer, die darauf eine simple Antwort geben: Lückenkemper müsse einfach mehr trainieren, dann würde sie noch schneller laufen können. Uli Kunst sieht das anders. "Meine Philosophie ist, dass weniger manchmal mehr ist. Wenn ich Gina ansehe, dass sie müde ist, dann sage ich schon mal zu ihr: Du, lass uns jetzt lieber mal ’nen Kaffee trinken gehen statt zu trainieren."

So hat es der Trainer der Vize-Europameisterin dem Tagesspiegel erzählt. Kunst ist Diplomsportlehrer, 68 Jahre alt, er hat in Katar und Singapur als Leichtathletiktrainer gearbeitet und plötzlich fiel "wirklich ein Stern vom Himmel, der hell strahlt, ein richtiger Glücksfall. Ja, so jemand ist Gina." Zusammen trainieren sie nicht traditionell, sondern effizient. Lückenkemper setzt wie die erfolgreichen Nordischen Kombinierer auf Neuroathletiktraining, sie regeneriert im Lymphomaten.

Aber über Pferde kann man mit Gina Lückenkemper eben auch reden. Am Montag sieht sie ihren Picasso wieder. Für sie, wie sie sagt, die beste Therapie und Entspannung.

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