Vater, Mutter, Bruder, Freundin: Alle sehen in London zu

17.7.2012, 11:44 Uhr
Vater, Mutter, Bruder, Freundin: Alle sehen in London zu

© Roland Fengler

Es ist gar nicht so leicht, sich mit Tim Schleicher zu treffen. Mehrfach haben wir es versucht, aber immer kam etwas dazwischen. Mal musste der Ringer zum Großen Preis nach Dortmund fahren, um am Mattenrand die Gegner zu studieren, ein anderes Mal war er die ganze Woche über in Aschaffenburg bei seinem Physiotherapeuten und beim Training im dortigen Leistungszentrum. Als wir Tim Schleicher dann zu einem ausgiebigen Telefongespräch erwischen, ist er tatsächlich in Nürnberg. „Ich bin noch schnell heimgefahren, weil mein Opa Geburtstag hat“, erzählt er.

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© Bauer, Matejka, Icks

Das, so denkt man, sagt viel über den jungen Ringer aus. Als Mitglied der Sportfördergruppe der Bundeswehr in Bruchsal trainiert er unter der Woche in Schifferstadt, aber eben oft auch in Aschaffenburg. Seine Freundin lebt in Frankfurt, die Familie in Nürnberg, und irgendwie hat der „Familienmensch Tim Schleicher“ viel zu wenig Zeit, um seine Angehörigen zu sehen. „Das ist nicht immer leicht für mich“, sagt er. Deshalb also der Blitzbesuch beim Opa.

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© Icks

Leicht und angenehm ist es dagegen, mit Schleicher über seinen Sport zu sprechen. Man kennt ihn ja von seinen tollen Auftritten in der Halle seines Vereins am Zeisigweg, er ist einer dieser vielen Ringer, die schon als kleine Kinder über die Matte getollt sind und den Ringsport über die Lust am Raufen mit Gleichaltrigen gelernt haben. Heute allerdings ist Schleicher alles andere als ein aggressiver Raufer. Er ist vielmehr ein ehrgeiziger, enorm hart arbeitender Leistungssportler, der sich eine Disziplin ausgesucht hat, die längst nicht so im Fokus steht wie Fußball — auch vor Olympischen Spielen nicht.

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© Bauer

Von Olympia träumt Tim Schleicher seit zwölf Jahren. Am Fernseher hat er 2000 bei den Spielen von Sydney den Sieg von Alexander Leipold erlebt, der heute als Bundestrainer seine wichtigste Bezugsperson im Sport ist. „Ich habe mir damals aber überhaupt nicht vorstellen können, wie schwer es überhaupt ist, sich für die Spiele zu qualifizieren“, erzählt Schleicher. Sein erster realer Traum von Olympia platzte 2008, als er die Qualifikation für Peking knapp verfehlte. Auch damals wusste er aber noch nicht genau, wie viel Training und Energie dieser vierjährige olympische Zyklus wirklich verschlingen kann. Heute weiß er es. Seit vier Jahren bereitet er sich intensiv auf London vor, seit vier Jahren bestimmt der Ringsport seinen Tagesablauf. Der beginnt in Schifferstadt in einem Sportinternat täglich um 8 Uhr, zwischen 10 und 12.30 Uhr steht die erste intensive Einheit mit Krafttraining und Technikübungen auf dem Plan. Nach dem Mittagessen beginnt die Regeneration mit Massagen und Physiotherapie, bevor am frühen Abend noch einmal zweieinhalb Stunden hart auf der Matte gerungen wird – oft bis zur Erschöpfung.

„Da kommt man abends nicht auf dumme Gedanken“, sagt Schleicher, der sich an die dauernde Müdigkeit inzwischen gewöhnt hat. Etwaige Discobesuche fehlen ihm ohnehin nicht, eher schon der Kontakt zu seiner Familie. Aber diese Entbehrungen gehörten eben dazu, wenn man nach Olympia will. Fast wäre sein Traum ja wieder geplatzt. Im Frühjahr zog er sich einen Riss an der Syndesmose zu, die Schien- und Wadenbein verbindet. Mit viel Zähigkeit kämpfte er sich zurück und sprang erst im letzten Qualifikationsturnier — und da auch erst in der letzten Runde des entscheidenden Kampfes — auf den Olympiazug.



Nun, da er es geschafft hat, will er durchaus mehr. Dabei zu sein ist für ihn nicht alles, und so traut sich der Freistilspezialist in der Klasse bis 60 Kilogramm Körpergewicht durchaus eine Medaille zu — eine optimale Tagesform und ein wenig Glück bei der Auslosung der Gruppengegner vorausgesetzt. Besonders freut sich Familienmensch Tim Schleicher, dass er an seinem großen Tag in London, dem 11. August, viele bekannte Gesichter sehen wird.

Seine Eltern, sein Bruder und seine Freundin haben noch kurzfristig Flüge bekommen. Nur Eintrittskarten haben sie noch nicht. „Das regeln wir schon noch“, sagt Tim Schleicher, der sein olympisches Debüt ohne große Aufgeregtheit angehen will. „Aber“, meint er dann, „wahrscheinlich kommt die Nervosität ganz automatisch. Das lasse ich auf mich zukommen.“
 

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