7:1! Sensationelle deutsche Elf erschüttert Brasilien

9.7.2014, 13:56 Uhr
Der eingewechselte Andre Schürrle traf zum zwischenzeitlichen 6:0 und 7:0.

© AFP Der eingewechselte Andre Schürrle traf zum zwischenzeitlichen 6:0 und 7:0.

Es waren 25 Minuten gespielt, erst 25 Minuten, und auf den Rängen des Stadions sah man: Fassungslosigkeit, pures Entsetzen, Verzweiflung. Es waren nicht Tausende, die weinten, es waren Zehntausende, sie zitterten unter Tränen, was auf dem Platz passierte, erschütterte ganz Brasilien. Zu diesem Zeitpunkt stand es: Vier zu null für Deutschland – im Halbfinale der Weltmeisterschaft gegen Gastgeber Brasilien.

Es mutete nicht nur sensationell an, was da geschah, sondern irreal. „Wunderbar, spannend, genial“: So hatte der deutsche Bundestrainer Joachim Löw zuvor seine Erwartungen formuliert. Spannend war es für zehn Minuten, Brasilien startete agil in dieses Spiel, das aber Deutschland bestimmte, und Spannung war dann bald keine mehr übrig. Zu überlegen war eine phantastische deutsche Mannschaft, zu unsicher, dann zu verblüfft und schließlich panisch entsetzt wirkte die Seleçao, wunderbar und genial sah Löws Auswahl aus, die nun am Sonntag im Finale auf Argentinien oder die Niederlande trifft – seit gestern als Favorit.

Am Ende dieses Spiels, dieser Demonstration eines völlig ungeahnten Klassenunterschieds, hieß es: 7:1 (5:0), vielleicht wäre es noch schlimmer gekommen für Brasilien, hätte sich der Sieger nicht nach der Pause – vielleicht aus Pietät – nicht selbst ein klein wenig gebremst, man spielte schließlich gegen eine Elf mit Nimbus und Charisma, die immerhin bemüht war, das Desaster in der zweiten Halbzeit in Grenzen zu halten. Beinahe erstaunte es, dass die schwindelig gespielten Brasilianer sich kurz noch einmal aufrafften und den Flurschaden wenigstens in den zweiten 45 Minuten in Grenzen zu halten versuchten, ehe noch die kleinere Torlawine folgte – und Brasiliens Ehrentor in der Schlussminute.

Nie in der Geschichte der Weltmeisterschaft gab es so ein Halbfinale, in dem sich die eine Mannschaft in einen solchen Rausch hineinsteigerte, die andere wie paralysiert danebenstand. Nicht irgendeine Mannschaft, sondern die des fünfmaligen Weltmeisters, die als Favorit in ihre Heim-WM gestartet war und ein Trauma erlebte, wie es 1950, als Brasilien erstmals WM-Gastgeber war, das Maracanazo bedeutete, jene 1:2-Niederlage gegen Uruguay, die ein ganzes Land für Jahre in Verzweiflung stürzte.

Wie so etwas möglich ist, wird man sich vor allem in Brasilien lange fragen, in Deutschland vielleicht auch. Dass Deutschland die besseren Einzelspieler hat, ahnte man zuvor. Aber Brasilien trat bisher als kompakte Einheit auf, mental und physisch stark, widerborstig. Gestern zerbrach die Seleçao mit dem ersten Gegentor nach zehn Minuten in ihre Einzelteile, Löws Elf, hochkonzentriert von der ersten Minute an, nutzte die Chance mit einem schnellen, technisch starken Vortrag – und dann entwickelt Fußball manchmal eine Eigendynamik, die sich allen Erklärungen am Ende doch verschließt.

Natürlich: Neymar fehlte Brasilien. Er war zwar dabei, tausendfach als Poster auf den Rängen, zum Abspielen der Hymne hielten Kapitän David Luiz und Torwart Julio Cesar das Trikot des Superstars in Händen – im Stadion war der verletzte Ballkünstler nicht, auf dem Platz fehlte er noch mehr. Wie abhängig diese Mannschaft von ihrem besten Spieler ist, wusste man auch. Aber so abhängig, dass es ohne Neymar so endet?

Auch Kapitän Thiago Silva fehlte, er war gesperrt, und sein Vertreter, der arme Dante vom FC Bayern München, erlebte sein WM-Debüt als Debakel. „Es ist unmöglich, dafür Erklärungen zu finden“, sagte Rivaldo, Brasiliens Weltmeister von 2002, „Brasilien erlebt eine große Enttäuschung, die zu akzeptieren schwierig ist.“ Es wirkte, als breche eine Mannschaft, die unter einem immensen Erwartungsdruck in das Turnier ging und diesem lange standhielt, innerhalb von Minuten komplett zusammen. „Was war das?“, fragte Franz Beckenbauer, Deutschlands Weltmeister und Weltmeistertrainer, „es ist nicht zu glauben.“

Müller eröffnet Torreigen

Wieder war es ein Standard, dieses spät eingeübte Stilmittel, der der deutschen Elf dabei zur frühen Führung verhalf, wieder, wie zuletzt im Viertelfinale, kam die Flanke von Toni Kroos, diesmal per Eckball – und dann war Thomas Müller aus rund fünf Metern zur Stelle, weil sich David Luiz verschätzt hatte. Freistehend traf der Bayer mit rechts zum 1:0 (11.), es war Müllers fünftes Turniertor, zwölf Minuten später sah man die ersten fassungslosen Gesichter.

Kroos spielte steil auf Miroslav Klose, der zwar erst an Julio Cesar scheiterte, aber im Nachschuss traf der 36 Jahre alte deutsche Stürmer zum 2:0 (23.). Zeit, sich die Augen zu reiben, blieb danach gar nicht mehr, als dieser gelbe Scheinriese wankte, setzte die deutsche Mannschaft mit Lust, Wucht und Phantasie nach.

Philipp Lahm flankte von rechts, Thomas Müller säbelte unfreiwillig über den Ball, aber hinter ihm stand Kroos – und vollendete aus 16 Metern mit links zum 3:0 (24.). Die ersten Zuschauer verließen das Stadion, wieder nur Momente später fiel in ihren Rücken das nächste Tor. Nach feinem Doppelpass mit Sami Khedira traf wieder Kroos, diesmal mit rechts, zum 4:0. Özil bedient Khedira – 5:0 nach 28 Minuten, ein Erdbeben erschütterte Belo Horizonte, erst nach der Pause durfte Deutschlands Keeper Manuel Neuer ein bisschen mitspielen. Gegen Paulinho reagierte er bei seiner ersten richtigen Prüfung brillant (53.) und war auch gegen Fernandinho zur Stelle (58.).

Ohne Mats Hummels, wegen einer Sehnenreizung vorsichtshalber gegen Per Mertesacker ausgetauscht, sortierte sich die Abwehr neu und brauchte ein paar Minuten dafür, dann spielte die Musik wieder gegenüber – während Brasiliens Anhang den unglücklichen Angreifer Fred verhöhnte, der minutenlang zum Ventil der Enttäuschung avancierte. Am Ende applaudierten sie der deutschen Elf.

Nach einer Hereingabe von Lahm war es der eingewechselte Andre Schürrle, der aus sechs Metern zum 6:0 traf (69.), zehn Minuten später glückte Schürrle aus halblinker Position das 7:0; Mesut Özil verpasste in der Schlussminute Tor Nummer acht, Oscar gelang gegenüber der Ehrentreffer. Luiz Felipe Scolari, Brasiliens Trainer, sah am Spielfeldrand so ungläubig aus wie die Zuschauer, die bis zum Schluss geblieben waren – und ein historisches Spiel gesehen hatten. Es wirkte so, aber es war tatsächlich nicht nur ein Traum.

Brasilien: Julio Cesar - Maicon, David Luiz, Dante, Marcelo - Fernandinho (46. Paulinho), Luiz Gustavo - Hulk (46. Ramires), Oscar, Bernard - Fred

Deutschland: Neuer - Lahm, J. Boateng , Hummels (46. Mertesacker), Höwedes - Schweinsteiger, Khedira (76. Draxler) - T. Müller, T. Kroos, Özil  - Klose (58. Schürrle)

Tor: 0:1 Müller (11.), 0:2 Klose (23.), 0:3 Kroos (25.), 0:4 Kroos (26.), 0:5 Khedira (29.), 0:6 Schürrle (69.), 0:7 Schürrle (79.), 1:7 Oscar (90.) | Gelbe Karten: Dante | Schiedsrichter: Marco Antonio Rodriquez Moreno (Mexiko) | Zuschauer: 58.000

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