Vielfältige Stadt mit zahlreichen Widersprüchen

8.10.2015, 20:39 Uhr
Vielfältige Stadt mit zahlreichen Widersprüchen

© Alle Fotos: André Winkel

Das sonnige Wetter an einem Morgen Ende September spielt den zahlreichen Straßencafés im Zentrum Charkiws in die Hände. Deren Kellner bereiten sich auf den Tag vor und rücken draußen in der Sumskaja-Straße Tische und Stühle zurecht. Nur ein paar Meter weiter, im Schewtschenko-Park, schnüren Reinigungskräfte die schwarzen Säcke zu. Den Müll sucht man in der Anlage nun vergebens, dafür stechen die zahlreichen Blumen ins Auge — und die vielen jungen Menschen. Meist in Grüppchen und oft lachend steuern sie die zwei riesigen Gebäudekomplexe der Karazin-Universität am Platz der Freiheit an. Charkiw ist nun mal eine Studentenstadt.

Vielfältige Stadt mit zahlreichen Widersprüchen

Charkiw ist aber auch eine Frontstadt. Nur etwa 270 Kilometer weiter befindet sich das Gebiet von Luhansk, in dem sich ukrainische Armee und Separatisten blutige Gefechte lieferten und wo die Situation weiter als instabil gilt. So ist Charkiw seit über einem Jahr auch eine Flüchtlingsstadt. Etwa jeder Achte in der 1,5 Millionen-Metropole ist ein Binnenflüchtling, ein Zwangsumsiedler, wie die Menschen aus den Kriegszonen in Donezk und Luhansk in der Ukraine genannt werden.

Normalität auf den ersten und der andauernde Ausnahmezustand — an den sich alle gewöhnt zu haben scheinen — auf den zweiten Blick, so präsentierte sich Charkiw den Besuchern aus Nürnberg. „Ich bin überrascht, dass man in Charkiw keine Militärpräsenz sieht“, sagt Klemens Gsell, der Dritte Bürgermeister von Nürnberg. „Charkiw ist eine wahnsinnig lebendige Stadt“, stellt Achim Mletzko fest. Der Vorsitzende der Stadtratsfraktion der Grünen sieht jedoch auch viele Probleme, über die saubere Straßen und renovierte Häuser in der City nicht hinwegtäuschen dürfen: „Wenn man mit den Vertretern der Zivilgesellschaft spricht, merkt man, dass die Machtstrukturen hier sehr subtil sind und die Korruption groß ist.“

Arme Rentner und teure Läden

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Überall in der Stadt entstehen neue Einkaufszentren, doch der ökonomische Aufschwung ist nicht wirklich zu sehen, findet Max Höffkes von der CSU-Stadtratsfraktion: „Der Charkiwer Flughafen ist relativ leer. Die wirtschaftliche Zukunft, für die er gebaut wurde, ist noch nicht da.“ Die meisten Charkiwer beklagen die in den vergangenen zwei Jahren stark gestiegenen Preise, sei es für Lebensmittel oder für Strom und Gas in ihren Wohnungen.

„In der Innenstadt sind die Cafés und die Geschäfte voll. Aber am Rande der Stadt leben viele Menschen, die kaum ins Zentrum fahren, weil sie sich den Lebensstil dort nicht leisten können“, sagt Josef Birkmann, der mit der Bürgerreise bereits zum dritten Mal nach Charkiw kam. Auf seinem Programm stand auch der Besuch der Suppenküche, eines der Projekte des Partnerschaftsvereins für sozial Schwache. „So eine Küche bräuchte man in jedem Stadtbezirk. Es gibt einfach zu viele Menschen, die ohne eigenes Verschulden arm geworden sind und von ihrer Rente nicht leben können.“

Einsatz für Binnenflüchtlinge

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Viele Nöte haben in Charkiw die Binnenflüchtlinge, für die es oft alles andere als einfach ist, eine bezahlbare Wohnung und Arbeit zu finden. Das Engagement der Charkiwer für diese Menschen ist jedoch enorm. Es gibt die städtische Unterstützung. Doch die stößt schnell an ihre Grenzen. Deswegen sind es vor allem private Initiativen, die den Menschen beim Aufbau eines neuen Lebens in Charkiw unter die Arme greifen. „Natürlich ist die Situation mit Flüchtlingen bei uns und in Charkiw unterschiedlich. Dennoch kann man sich an Charkiw ein Beispiel nehmen, wie unaufgeregt die Herausforderung angegangen wird“, sagt Achim Mletzko.

Neben vielen privaten Initiativen, die aufgrund des großen Bedarfes für Binnenflüchtlinge entstanden sind, haben einige Charkiwer nichtstaatliche Organisationen ebenfalls auf die aktuelle Lage reagiert und ihre Arbeit erweitert. Dazu zählt auch der soziale Hilfsdienst, dessen Schwerpunkt in der Förderung der Kinder aus sozial schwachen Familien liegt. Nun bietet die Organisation den Binnenflüchtlingen Care-Pakete aber auch juristische und psychologische Beratung an. Unterstützt wird der Hilfsdienst auch vom Nürnberger Partnerschaftsverein: Unter anderem wurde eine Ferienfreizeit für Kinder mit und ohne Flüchtlingserfahrung von Nürnberg aus finanziert, ebenso die Dachreparatur des Waisenhauses der Einrichtung. „Unsere Unterstützung wird benötigt. Wir haben gute und zuverlässige Partner vor Ort, deswegen können wir ganz konkret, schnell und effektiv helfen“, sagt Antje Rempe, stellvertretende Vorsitzende des Partnerschaftsvereins.

Lebendige Partnerschaft

Ob beim Empfang der Stadt Charkiw, bei der deutschen Honorarkonsulin oder der Jubiläumsfeier im Nürnberger Haus, der Bildungs- und Begegnungsstätte, die der Partnerschaftsverein vor 20 Jahren ins Leben rief: Alle Seiten lobten die guten Beziehungen zwischen den beiden Städten. Das wird vor allem in den zwischenmenschlichen Kontakten deutlich, sagt Josef Birkmann: „Man wird als Freund empfangen, das ist nicht gespielt.“ Eine besondere Rolle kommt dabei dem Nürnberger Haus zu, betont Rempe: „Es ist nicht nur die gefragteste Sprachschule der Stadt, sondern die wichtigste Anlaufstelle für uns sowie für alle in Charkiw, die sich für Deutschland interessieren.“ Die Lebendigkeit der Partnerschaft findet auch Anja Prölß-Kammerer bezeichnend: „Es gibt eine gewachsene Gemeinschaft im Nürnberger Haus und im Partnerschaftsverein. Es ist schön, dies in Nürnberg, aber auch in Charkiw vor Ort wahrzunehmen.“

Von Lenin blieben nur Schuhe

Für die Vorsitzende der SPD-Stadtratsfraktion war es der erste Besuch in Charkiw. Einer ihrer Eindrücke: „Die Mischung aus dem Drang nach Europa und Patriotismus ist sehr präsent, das wurde mir nach einem Gespräch mit Charkiwer Schülern deutlich.“ Wohin man blickt, überall sind die ukrainischen Nationalfarben: Die blau-gelben Fahnen zieren die Sumskaja-Straße und fast alle Denkmäler in der Stadtmitte. So manche sowjetische Symbolik wurde von Charkiwern gar zu Fall gebracht, wie etwa die Lenin-Statue auf dem zentralen Platz der Freiheit. Vom Denkmal sind nur der Sockel und die Schuhe des Revolutionärs geblieben. Die Statue haben am 28. September 2014 die pro-ukrainischen Demonstranten gestürzt — zur Freude vieler jüngerer Charkiwer, die darin einen Akt der Befreiung sehen, und zum Ärger und Bedauern vieler Älterer, die den Sowjetzeiten nachtrauern.

In Charkiw fühlte sie sich sicher, betont Prölß-Kammerer. Dies bestätigten auch die Teilnehmer der Bürgerreise, was Rempe sehr freut: „Wir wollten den Nürnbergern zeigen, dass Charkiw eine vielfältige und liebenswürdige Stadt ist, wo man ruhig hinfahren kann. Hier leben viele gut ausgebildete Menschen, die ihr Land verändern wollen.“ Doch die Bürgerreise zum Jubiläum der Städtepartnerschaft hatte noch einen weiteren Zweck, der mindestens genauso wichtig ist, so die stellvertretende Vereinsvorsitzende: „Wir wollten den Ukrainern zeigen, dass wir da sind. Es war ein Zeichen der Solidarität.“

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