Auszubildende - verzweifelt gesucht

19.7.2017, 08:00 Uhr
Auszubildende - verzweifelt gesucht

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 Zugleich werben die Betriebe offenbar erfolgreich um Studienabbrecher: 2016 begannen 60 000 von ihnen eine Fachausbildung. "Uns geht der Nachwuchs aus", klagte DIHK-Präsident Eric Schweitzer. Besonders betroffen sind Gast- und Baugewerbe, die wenigsten Probleme hatte die Immobilienbranche.

Was lassen sich die Firmen einfallen, um Nachwuchs zu gewinnen?

Sie bezahlen ihrem Lehrling den Führerschein, eine Vergütung über Tarif, einen Bonus für gute Berufsschulnoten. Sie gewähren großzügig Urlaub und geben Geld für bessere Berufskleidung, Bücher oder gar Fitnessclub-Mitgliedschaften. Jeder zehnte Betrieb in Deutschland hat mittlerweile solche Not, "Azubis" zu gewinnen, dass er auf finanzielle und materielle Anreize setzen muss. Die Deutsche Bahn etwa verspricht jedem künftigen Fahrdienstleiter, Lokführer und Kaufmann für Verkehrsservice ein Tablet. Die Bahn kauft für das erste Lehrjahr 1200 Geräte für rund 700 000 Euro. Die Azubis sollen die Tablets privat und im Betrieb nutzen.

Wie ist die Lage am Lehrstellenmarkt aus Sicht der Unternehmen?

Angespannt wäre noch untertrieben. "Heute können über doppelt so viele Betriebe ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen wie vor zehn Jahren", bedauert DIHK-Präsident Schweitzer. "Inzwischen ist das bei knapp einem Drittel der Unternehmen der Fall. Fast jeder zehnte Ausbildungsbetrieb hat noch nicht einmal eine Bewerbung erhalten." Das Problem: Wenn nicht mehr genug Fachkräftenachwuchs aus der dualen Bildung kommt, ist es bis zu einem echten Fachkräftemangel nicht mehr weit – für Firmen "das Konjunkturrisiko Nummer eins".

Decken sich diese Einschätzungen mit offiziellen Zahlen?

Im Großen und Ganzen schon. Nach dem Anfang April veröffentlichten Berufsbildungsbericht der Bundesregierung sank die Gesamtzahl der neuen Lehrverträge 2016 auf gut 520 000. Fünf Jahre davor waren es fast 570 000. Als Erklärung gelten die demografische Entwicklung mit immer weniger jungen Menschen und der Trend zum Studium (Wintersemester 2016: 508 000 Erstsemester). Die Zahl offener Azubi-Plätze wuchs im Vorjahr um 4,5 Prozent auf 43 500. Diese bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten unbesetzten Lehrstellen sind laut DIHK aber nur die Spitze des Eisbergs – insgesamt seien es eher 100 000.

Hat also quasi jeder Lehrstellenbewerber die freie Auswahl?

Rein theoretisch können sich derzeit 100 Schulabgänger aus 104 Ausbildungsangeboten bedienen. Doch obwohl die Betriebe schon voriges Jahr oft händeringend suchten, gingen gut 20 000 Jugendliche leer aus. Der Grund: sogenannte Passungsprobleme – etwa weil Jugendliche mit ihren Abschlüssen nicht den Ansprüchen der Firmen genügten oder weil sie nicht mobil genug waren. Der DIHK-Report stellt trotz aller Notlagen klar: "Qualifizierte Ausbildung braucht gute Schulbildung." Aber die sei angesichts gravierender Mängel von Schulabgängern in Deutsch und Mathematik oft ein Problem.

Wie steht es um die "Ausbildungsreife" der Bewerber?

Nach DIHK-Eindrücken nicht gut. Laut Umfrage sank der Anteil der Lehrbetriebe, die total zufrieden mit den angebotenen Qualifikationen sind, auf unter zehn Prozent. Umgekehrt stellten 91 Prozent der Firmen Mängel fest – und passten sich an: "Der Anteil der Betriebe, die keine Möglichkeit sehen, lernschwächere Jugendliche auszubilden, sinkt stetig. War es 2014 noch ein Drittel der Betriebe, so ist es aktuell nur noch gut ein Fünftel." Mit Nachhilfe oder einer "Assistierten Ausbildung" gelinge vielen Jugendlichen aber der Einstieg.

Was muss sich ändern?

Schweitzer sieht Schulen und Lehrer in der Pflicht, um sowohl die Ausbildungsreife als auch die grundsätzliche Bereitschaft von Jugendlichen für eine duale Ausbildung zu erhöhen. Gefordert seien aber auch die Eltern, ja die Gesellschaft insgesamt. Laut Umfrage verstören nämlich auch schwache Sozialkompetenzen vieler Schulabgänger. Ein knappes Drittel der Betriebe ärgert sich über mangelndes Interesse für den Job oder geringe Aufgeschlossenheit. Bei Leistungsbereitschaft und Motivation, Disziplin und Belastbarkeit sehe es noch schlechter aus – es würden "neue Tiefstände der Unzufriedenheit erreicht".

Müssen Firmen anderswo suchen?

Es sei nun "umso wichtiger, dass wir vorhandene Potenziale nutzen", etwa von Studienabbrechern oder Flüchtlingen, so Schweitzer. Derzeit landen immerhin 43 Prozent der Studienabbrecher zügig in einer Berufsausbildung (2008: 22 Prozent). Auch bei Flüchtlingen werden Firmen fündig: Derzeit bilden rund sieben Prozent der DIHK-Betriebe Geflüchtete aus (2016: drei Prozent). Fast jedes fünfte Unternehmen will demnächst Flüchtlinge als Lehrlinge nehmen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen: vor allem Deutschkenntnisse und ein gesicherter Aufenthaltsstatus.

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