Die Spekulanten, das Korn und der ganze Rest

10.5.2011, 06:59 Uhr
Die Spekulanten, das Korn und der ganze Rest

© Irene Lenk

Garri Kasparow ist eine lebende Legende. Souverän beherrscht der Russe die Raffinessen des Schach-Spiels, denkt weiter voraus als andere. Ein Meister der Strategie und Taktik mit dem feinen Gespür für den richtigen Zeitpunkt zur Attacke.

Heiner Dehler ist keine Legende, er spielt nicht einmal gerne Schach. Und doch meistert der 61-jährige Landwirt aus dem Landkreis Neustadt/Aisch Tag für Tag eine Aufgabe, die eines Kasparows würdig wäre. Um die 15000 Kilogramm Weizen und Gerste erntet Dehler Jahr für Jahr, so viel wie zehn VW Golf auf die Waage bringen. Was Kasparow König und Bauer sind, ist dem Landwirt sein Korn.

Acht mal acht Felder misst so ein Schachbrett normalerweise. Dehlers Spielfeld aber hat sich in den vergangenen Jahren verdreifacht, mindestens — so komplex und verzwickt ist das Geschäft mit dem Korn geworden. Nicht einmal gefragt worden ist er vorher.

„Der Agrarmarkt ist heute ein Weltmarkt“, stellt Rudolf Fähnlein fest, Direktor des mittelfränkischen Bauernverbands. Revolution sei ein zu großes Wort, „aber das ist schon eine Entwicklung, die sich so vor zehn Jahren keiner vorstellen konnte“. Eine, die Folgen bis ins kleinste fränkische Dorf zeitigt: Die Preisschwankungen haben für alle extrem zugenommen.

Champus oder Lambrusco

„Früher war die Sache so: Kurz nach der Ernte ist der Weizen am billigsten. Logisch, da gibt es ja auch am meisten“, erinnert sich Bauer Dehler an die Zeiten, als er schon bei der Aussaat in etwa wusste, was er später für Weizen und Gerste bekommen wird. „Heute dagegen ist die Preisentwicklung ein reines Glücksspiel.“ Tatsächlich haben die Kurse für Agrarprodukte vor allem seit 2008 atemberaubende Sprünge hingelegt. Und acht, neun Euro Differenz pro 100 Kilo Korn sind schnell der Unterschied zwischen Champus und Tüten-Lambrusco zur Brotzeit.

Die Gründe sind vielfältig. Lange hat Europa mit politischen Mitteln starke Mauern um den eigenen Agrarmarkt gezogen. Doch der Wall bröckelt, nicht zuletzt auf Druck des Rests der Welt. Vor allem deshalb sind auch Frankens Bauern überhaupt erst gezwungen, sich zusehends dem globalen Markt zu widmen.

Auf diesem ist es zuletzt deutlich voller geworden. Am Pranger stehen besonders Spekulanten, die auf der Suche nach Anlageformen für all das billige Geld, das die Notenbanken in der Wirtschaftskrise zur Verfügung gestellt haben, die Agrarmärkte für sich entdeckt haben. Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner schimpfte bereits, Lebensmittel dürften nicht „zum Objekt von Zockern werden“.

Nach Schätzung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) sind die so Gescholtenen allerdings nur für circa ein Fünftel der Preisschwankungen verantwortlich. Viel stärker sei der Einfluss der auch real steigenden Nachfrage nach Getreide in Schwellenländern wie China und Indien. Ein Punkt, den Reinhard Grandke, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG), unterstreicht. „Das hat mit dem dort wachsenden Wohlstand zu tun, der die Ernährungsgewohnheiten ändert.“

Und schließlich sorgt noch die bereits in der Debatte um den Bio-Sprit E10 lebhaft diskutierte Konkurrenz der Anbauflächen für Nahrungsmittel und eben Bio-Kraftstoffe dafür, dass es auf den Agrarmärkten inzwischen sehr viel hektischer zugeht als noch vor einigen Jahren. Ist das Leben als fränkischer Getreidebauer heute komplizierter als früher? „Auf jeden Fall“, bestätigt Landwirt Dehler prompt.

Wobei die bei allen Schwankungen grundsätzliche Tendenz steigender Preise den Bauern durchaus in die Hände spielt. „Auch kann er statt nur in der Region jetzt weltweit nach dem besten Käufer suchen“, sagt Bauernverband-Direktor Fähnlein. Handelsunternehmen wie die Hamburger Toepfer International bieten sich gerne für solche Geschäfte an. „Für den Landwirt eröffnen sich neue Absatzmärkte“, pflichtet DLG-Geschäftsführer Grandke bei.

Kleines Land, großer Handel

Umgekehrt gelte das für die Konkurrenz in Asien oder Amerika aber natürlich ebenfalls, weist Fähnlein auf die Kehrseite der Medaille hin: „Das relativ kleine Deutschland ist nicht nur der zweitgrößte Agrarexporteur der Welt, sondern auch einer der größten Importeure von Nahrungsmitteln.“ Zu den Nachteilen der Entwicklung zählt er außerdem, „dass ich jetzt auch als Bauer im fränkischen Dorf plötzlich auf das Wetter in Kiew achten muss“. Eine Missernte dort, schon hat das via Weltmarkt Konsequenzen für die Preise hier.

Das Agrargeschäft sei mittlerweile so komplex, dass man sich als normaler Landwirt schwertue abzuschätzen, was einem die eigene Ernte eines Tages in die Kasse spülen wird, gesteht Landwirt Dehler. Ein Rezept für mehr Planungssicherheit sei, verstärkt Vorverträge mit Kunden abzuschließen. „Damit ist man nicht mehr ganz so abhängig von den Weltmarktpreisen, auch wenn diese dafür natürlich oft der Richtwert sind“, bestätigt DLG-Geschäftsführer Grandke.

In den USA längst Standard sind zudem Landwirte, die selbst an den Agrarbörsen spekulieren, an denen ihre Preise gemacht werden. Auch in Deutschland ist dieser Trend zum Börsen-Bauern in Ansätzen bereits zu beobachten. Seminare entsprechenden Inhalts sind gut besucht.

Ihren Frieden mit der neuen, komplizierteren Welt des Agrar-Business’ wird die Branche so oder so machen müssen. „Das Rad wird sich nicht zurückdrehen lassen. Wir müssen uns dem stellen“, ist Bauernverbands-Direktor Fähnlein überzeugt. Bauer Dehler nimmt es cool wie ein, ja: wie ein Schach-Weltmeister: „Wenn man den Beruf schon etliche Jahre macht, wächst man da rein.“ Und Sohn wie Nachfolger in spe Martin sei es schon gar nicht mehr anders gewöhnt.