Tempo-Taschentuch — zum Wegwerfen geboren

15.7.2010, 00:00 Uhr
Tempo-Taschentuch — zum Wegwerfen geboren

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Es ist vergänglich, ja zum Wegwerfen geboren. Blütenweiß und unscheinbar zeigt es seine wahre Größe erst, wenn es sich entfalten kann: Das Tempo-Taschentuch, das einer ganzen Produktgattung seinen Namen gab. Jeder Deutsche kennt es, jeder nutzt es — statistisch — einmal am Tag, doch kaum einer verbindet mit diesem kleinen Alltagshelfer den Gedanken an den Wirtschaftsraum Nürnberg.

Dabei steht die Wiege dieser Marke unmittelbar vor den Toren der Frankenmetropole, konkret in Heroldsberg. Es war der Unternehmer Oskar Rosenfelder, der 1929 den richtigen Riecher hatte und sich „Tempo“ als Marke für das erste deutsche Papiertaschentuch beim Reichspatentamt in Berlin in die Warenzeichenrolle (Nummer 407752) eintragen ließ. Das durch Glycerinauftrag weich gemachte Zellstoff-Tüchlein sollte zum Welterfolg werden. Doch die Historie hat auch tragische Seiten.

Oskar Rosenfelder war mit seinem Bruder Emil Eigentümer der Vereinigten Papierwerke in Heroldsberg, die unter anderem auch die Damenbinde „Camelia“ herstellten. Aufgrund der regen Nachfrage nach „Tempo“ steigt die Produktion innerhalb des ersten Jahrzehnts um das Zehnfache. Ende der 30er Jahre werden bereits 400 Millionen Exemplare des praktischen Stofftuchersatzes produziert. Mit Werbeslogans, wie „Drum merkt es Euch für immer, Leute — Tempo muss man haben heute“ und mit der Botschaft „Kein Waschen mehr!“, avanciert die fränkische Antwort auf die US-Konkurrenz „Kleenex“ zu den ganz wenigen Marken, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg eine deutschlandweite Popularität erlangten.

Schickedanz war Nutznießer

Doch Rosenfelder ist Jude. Das in Nürnberg herausgegebene Nazi-Propagandablatt Der Stürmer überzieht den „Camelia-Juden“ mit einer Hetzkampagne, an deren Ende der erfolgreiche Unternehmer aufgeben und das Land verlassen muss. Nutznießer ist Gustav Schickedanz, der die Papierwerke für einen Spottpreis erwirbt. Der Quelle-Gründer knüpft nach dem Krieg an die Erfolge an. 1947 wird die Produktion wieder aufgenommen, schon 1955 werden jährlich mehr als eine Milliarde dieser Papiertaschentücher hergestellt. Zeitweise war Tempo in mehr als 40 Ländern auf dem Markt.

Immer wieder gab es Veränderungen. Der Tempo-Griff zur Entfaltung mit nur einer Hand wurde patentiert, die Folienverpackung modernisiert, die Duftnote verändert — aber im Grunde ist das Produkt immer geblieben was es von Anfang an war: Ein 20,7 mal 21,1 Zentimeter großes vierlagiges Taschentuch, das nicht gewaschen, nicht gebügelt werden muss und dessen Markennamen in weißen Lettern auf dunkelblauem Grund seit Jahrzehnten nahezu unverändert für Qualität und Beständigkeit steht.

Doch Tempo war mehr als nur ein neues Produkt. Das Papiertuch leitete hierzulande auch eine neue Ära ein, in der nicht mehr der Erhalt von Gütern um jeden Preis die Maxime war. Mit dem Tempo-Taschentuch begann in Deutschland die Wegwerfgesellschaft, wie es der Spiegel einmal in einer Kulturbetrachtung formuliert hat. Neben dem Teebeutel gab es plötzlich ein weiteres Konsumgut, das — einmal benutzt — sorglos entsorgt werden konnte.

Ob dieser Weg zu immer neuen Müllhalden und Einmalpackungen letztendlich der richtige Weg war, mag hier dahingestellt bleiben. Eine Sternstunde der heimischen Wirtschaftsgeschichte war das Tempo-Taschentuch allemal.

Geblieben von dieser Erfolgsgeschichte in Nürnberg ist indes nicht mehr als die Erinnerung. Schon Mitte der 80er Jahre wurde die Produktion an den Fertigungsstandort Neuss verlegt und die Vereinigten Papierwerke schließlich unter der Ägide von Schickedanz-Schwiegersohn Wolfgang Bühler 1994 an Procter&Gamble verkauft. Der US-Konzern hatte allerdings schon nach wenigen Jahren die Nase voll von Tempo und gab 2007 die Produktion nebst Marke an den heutigen Eigentümer, den schwedischen Konzern Svenska Cellulosa (SCA), ab.