Wenn Kopfschmerztabletten die Kopfschmerzen verursachen

5.7.2015, 17:13 Uhr
Wenn Kopfschmerztabletten die Kopfschmerzen verursachen

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Helga W. ist 86 Jahre alt und kämpft gesundheitlich an vielen Fronten. Unter anderem sorgt sie sich wegen ihres Bluthochdrucks, der Lungenkrankheit COPD und ihrer hohen Cholesterinwerte. Insgesamt schluckt sie jeden Tag sechs verschreibungspflichtige Medikamente, dazu nimmt sie regelmäßig Aspirin gegen Kopfschmerzen. Helga W. ist eine erfundene Patientin, aber ähnliche Geschichten existieren alleine in Nürnberg tausendfach. „Von den über 60-Jährigen nehmen 30 Prozent fünf oder mehr Medikamente ein“, sagt HMG-Mitarbeiter und Projektkoordinator Matthias Herforth.

Die Risiken für diese Patienten sind enorm. Mit jeder Pille, die zusätz-
lich geschluckt wird, wächst die Gefahr schwerer Nebenwirkungen. Ein Dilemma auch für die Ärzte, die Schaden und Nutzen durch den Pillen-Mix nicht immer sicher bewerten können. Manche Patienten genehmigen sich auf diese Weise sogar potenziell tödliche Wirkstoff-Cocktails.

Wirkung kann verpuffen

„Wirksamkeit und Nebenwirkungen hängen außerdem davon ab, wie die Medikamente im Körper abgebaut werden“, sagt Herforth. Ist der Stoffwechsel des Patienten auf Zack, kann es sein, dass durch den schnellen Abbau der notwendige Pegel im Körper gar nicht erreicht wird — die Wirkung verpufft. Umgekehrt kann die gleiche Dosis einen Menschen mit trägem Stoffwechsel regelrecht überfluten. Das neue EDV-Programm, das seit Mai vom Praxisnetz Nürnberg Süd (PNS) getestet wird, berücksichtigt auch diese genetischen Veranlagungen.

Der Vorgang ist standardisiert: Arzt und Patient füllen digital und anonymisiert einen Fragebogen aus, in dem Alter, Geschlecht, alle Diagnosen und die Medikamente abgefragt werden. Aber auch, ob zusätzlich Baldrian genommen wird oder der Patient noch zu Aspirin oder anderen frei verkäuflichen Medikamenten greift.

Lebens- und Ernährungsgewohnheiten werden ebenfalls registriert. „Grapefruitsaft beispielsweise enthält einen bestimmten Bitterstoff, der mit Medikamenten reagieren kann“, sagt Bangemann. In einem zweiten Schritt liefert die genetische Analyse einer Blutprobe die pharmakogenetischen Daten: Die DNA verrät, wie der Stoffwechsel des Patienten arbeitet. „Diese Untersuchung muss nur einmal im Leben stattfinden, die Gene bleiben ja konstant“, betont Bangemann.

Das „PGXperts“-System verrechnet schließlich alle Informationen und optimiert die Therapie – zum Beispiel, indem es den Austausch eines der Medikamente gegen ein besser verträgliches empfiehlt.

„Aktuell konzentrieren wir uns auf die Behandlung von Volksleiden wie Herzerkrankungen, Diabetes, Bluthochdruck oder Depression“, sagt HMG-Mitarbeiter Herforth. In der Testphase wird außerdem jede automatische Analyse händisch von Experten kontrolliert, um Fehler auszuschließen. Doch möglichst bald will man die Therapie-Empfehlungen des EDV-Systems europaweit in verschiedenen Gesundheitssystemen testen und auch auf psychische Erkrankungen und Krebs ausweiten.

Deutschlandweit nachgefragt

Im fiktiven Fall von Helga K. spuckte das Programm übrigens eine Warnung aus. Eines ihrer Medikamente reagiert mit Acetylsalicylsäure, dem Wirkstoff im Aspirin. Ausgerechnet Kopfschmerzen könnten die Folge sein. „Die Patientin nimmt also Aspirin gegen Kopfschmerzen, die möglicherweise erst durch die Wechselwirkungen mit Aspirin entstehen“, schlussfolgert Arzt Bangemann.

Bei wie vielen der mehr als 4200 Polypharmazie-Patienten, die es alleine in Nürnberg gibt, das ähnlich ist, ist unklar. Wer sich für eine Analyse interessiert, kann sich an das Praxisnetz Süd wenden. Abgerechnet werden kann in der Regel mit der Krankenkasse. „Die Nachfrage aus ganz Deutschland hat uns schon jetzt überrascht“, sagt Bangemann.

www.pns-nbg.de

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