Zehntausende bilden Menschenkette gegen Atomkraft

9.10.2010, 18:27 Uhr

Der Odeonsplatz im Herzen Münchens ist nur wenige 100 Meter entfernt von der bayerischen Staatskanzlei. Hätte Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) in seinem Büro am Fenster gestanden, er hätte die Rufe und die Wut der Leute vernommen. 50 000 Demonstranten zählten die Veranstalter am Samstag, die Polizei sprach von der Hälfte - in jedem Fall waren es weitaus mehr als vorhergesagt. «Das ist ein Riesenerfolg für uns. Es ist das angekündigte und erwartete Erdbeben», sagte Cheforganisator Marcus Greineder. 

«Abschalten, abschalten», hallte es einen ganzen Nachmittag quer durch die bayerische Landeshauptstadt. Um Punkt 15 Uhr schloss sich die groß angekündigte und zehn Kilometer lange Menschenkette vorbei an CSU-Zentrale und Staatskanzlei für eine knappe Viertelstunde. Münchens Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) reihte sich mit seiner Gattin ganz in der Nähe des Rathauses ein - und rief minutenlang im Sekundentakt selbst immer wieder lautstark: «Abschalten!» 

Sprechchöre, die tausendfach zu vernehmen waren. Der Protest gegen die von der CDU/CSU/FDP-Bundesregierung beschlossene Laufzeit- Verlängerung der Atomkraftwerke um durchschnittlich zwölf Jahre war friedlich, aber bestimmt. Und auch das herrliche Spätsommerwetter spielte mit. «Der weißblaue Himmel strahlt über uns, aber Schwarz und Gelb wollen auch etwas: eine "strahlende" Zukunft für Bayern», kritisierte Dieter Janecek, Landesvorsitzender der Grünen. 

Bayernweit war die Münchner Aktion die größte Anti-Atom-Demo seit der Kundgebung gegen die - damals noch geplante, später aber doch verworfene - atomare Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf 1985. Heuer ist die Demo keine wie in den 70er und 80er Jahren, als noch vorwiegend die Jugend die Bilder dominierte. Nun sind auch ganz Junge und ganz Alte da, Grazhaarige rocken zu «We are the world» - eine Gruppe Drittklässler aus dem Allgäu trägt T-Shirts, auf denen «Kinder gegen Atomkraft» steht. 

«Der heutige Tag zeigt, dass die Menschen wieder bereit sind, gegen eine solche Politik auf die Straße zu gehen», sagte Ude, der auch wegen der wochenlangen Massendemonstrationen gegen «Stuttgart 21» eine neue Protestkultur in der Bundesrepublik sieht. Schon Mitte September hatten in Berlin rund 100 000 Menschen gegen die Atomkraft protestiert.

Damals waren Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzler Guido Westerwelle (FDP) ganz nah - aber auch in München sind sie das Hauptthema, obwohl Berlin Hunderte von Kilometern entfernt liegt. Mit Spruchbändern und Plakaten machten die Demonstranten ihrer Wut Luft. «Merkel räum' die Asse auf und nimm die Fässer mit nach Haus'», ist in Anspielung auf die noch immer ungeklärte Frage der Atommüll- Endlagerung zu lesen. 

Unter einem Foto der Bundeskanzlerin mit tiefem Dekolleté haben Aktivisten auf einem Plakat «die Atom-Nutte» geschrieben. Besonders die geplante Laufzeit-Verlängerung des umstrittenen Meilers Isar 1 stößt in München auf Empörung - das Kraftwerk ist bereits seit 1977 am Netz und soll nun mindestens bis 2019 weiter Strom liefern. Ein anderer Demonstrant warnt auf seinem Plakat: «Weht nach einem Gau der Wind hierher, ist ganz Bayern menschenleer.»