Uns fällt der Abschied wahnsinnig schwer

19.7.2019, 17:58 Uhr
Uns fällt der Abschied wahnsinnig schwer

Gemeinsam haben sie mehrere Jahrzehnte im Schuldienst hinter sich, darunter etliche Jahre als Grundschulleiter. Dieser Tage wurden Chris Egelseer (Grundschule Tennenlohe), Harald Egelseer (Loschgeschule) und Christine Gilsbach (Hermann-Hedenus-Grundschule) in den Ruhestand verabschiedet. Mit EN-Redakteurin Eva Kettler haben sie sich zum Gespräch getroffen. "Unsere Freundschaft: Das war überhaupt das Beste", sagen sie unisono. "Und dass wir die gleiche Vorstellung von Schule haben."

Können Sie sich an Ihren ersten Schultag erinnern?

Chris Egelseer: Oh ja! Ich war extrem schüchtern. Und ich habe die Schultüte fast immer waagrecht gehalten, anders als alle anderen Schüler. Die Schultüte war so kostbar, ich konnte sie nur wie einen Schatz im Arm halten.

Harald Egelseer: Ich kann mich nur noch an den Schulreifetest erinnern. Wir mussten den Hampelmann machen. Wer den Hampelmann gekonnt hat, durfte zur Schule gehen.

Den Hampelmann?

Harald Egelseer: Ja, dabei kam es auf die Koordination der Hand-Fuß-Bewegung an.

Chris Egelseer: Das machen wir heute noch, um festzustellen, wie es mit der körperlichen Schulfähigkeit steht. Viele können das nicht mehr.

Christine Gilsbach: Mein erster Schultag war sehr traurig. Wir hatten zum ersten Mal in unserem Dorf zwei Klassen, und ich bin mit meinem Lieblingsfreund, mit dem ich immer gespielt habe, nicht in eine Klasse gekommen. Ich habe so geweint, dass meine Mama in die Schule gegangen ist und erreicht hat, dass mein Freund zu mir in die Klasse kam.

Chris Egelseer (lacht): Viele Rektoren regen sich über so etwas so furchtbar auf. Man muss Kante zeigen, heißt es immer. Eine Kollegin hat mir gestern erst gesagt: Von dir habe ich gelernt, "souverän" bedeutet, nicht immer konsequent eine Linie durchziehen. Sondern "souverän" bedeutet, jeden Fall einzeln betrachten, um dann eben auch einmal von der Linie abzuweichen.

Harald Egelseer: Aber da wirst du allein gelassen. Denn jedes Kind als Individuum anzuschauen, klingt wunderbar. Aber Tatsache ist, dass du die Lehrkräfte dafür gar nicht hast. Aus meiner Sicht nimmt der Staat zu wenig Geld in die Hand, um die Schulen personell entsprechend auszustatten. Wir bräuchten zum Beispiel für jede Klasse zusätzlich zum Lehrer einen Assistenten.

Christine Gilsbach: Man sieht es an den Ganztagsschulen. Da gibt es zwölf zusätzliche Lehrer-Stunden für eine Ganztagsklasse, und das ist ein Segen. Damit kann man im Unterricht differenzieren.

Chris Egelseer: Nicht nur, dass es für die Kinder schöner ist, auch die Lehrer arbeiten anders zusammen, der Austausch ist viel intensiver. Es ist natürlich wichtig, dass man ein Lehrerkollegium hat, bei dem das klappt. Eine Ganztagsklasse hat ja einen Klassenlehrer und einen Tandemlehrer, und die beiden müssen harmonieren, sonst geht es nicht.

Harald Egelseer: Aber wenn sie harmonieren, dann gibt es nichts Besseres. Die Eichendorffschule wird ja gerade zur komplett gebundenen Ganztagsschule entwickelt. Man kann gar nicht genug loben, was Schulleiter Helmut Klemm aus dieser Schule gemacht hat.

Sie befürworten alle drei den gebundenen Ganztag?

Chris Egelseer: Ja. Man muss auch sagen: Die Wahlfreiheit zwischen offenem und gebundenem Ganztag, Mittagsbetreuung, Hort und Lernstuben ist aus unserer Sicht eher schädlich für unser Schulsystem. Es wäre geschickter, das System des gebundenen Ganztags flächendeckend durchzusetzen und begleitend pädagogische Kräfte mit hineinzunehmen, die das Ganze stützen, denn das braucht man unbedingt.

Christine Gilsbach: Dann wäre Ganztag auch wirklich als Konzept verstanden und nicht als eine unter vielen Betreuungsmöglichkeiten.

Harald Egelseer: Da wir schon bei Schulpolitik sind, möchte ich benennen, was für mich das Wichtigste wäre: Der Ausbau der Grundschule bis mindestens zur sechsten Klasse.

Und warum?

Harald Egelseer: Weil es nicht gut ist, bereits am Ende der vierten Klasse zu selektieren und festzulegen, welche Schulart ein Kind durchläuft. Damit werden auch die Freundschaften der Kinder untereinander schon sehr früh bestimmt. Man sollte schauen, dass sie so lange wie möglich zusammen sind und sich dadurch bleibende Freundschaften bilden können.

Chris Egelseer: Außerdem hat das Studium der Grundschullehrer dem Studium von Gymnasiallehrern etwas voraus - von der Methodik, der Didaktik, der Pädagogik her. Es geht eben nicht nur um die Inhalte eines Faches, sondern auch um die Frage, wie man den Stoff vermitteln kann. Und es wird mehr berücksichtigt, wie sich ein Kind entwickelt.

Christine Gilsbach: Das merkt man auch bei den Zusatzqualifikanten, die als studierte Gymnasial- und Realschullehrer an die Grundschulen gekommen sind. Sie sehen bei uns, was wir da leisten und wie viel anders das ist. Und ganz klar: Der Übertritt in dieser Form muss weg. Wenn wir wirklich individualisieren und differenzieren wollen, dann kann es nicht sein, dass wir das dann durch vergleichbare Probearbeiten und Notenwerte wieder zunichte machen. Wir müssen weg von den Übertrittsnoten, um die Kinder voranzubringen in ihrem Tempo und in ihren Möglichkeiten.

Inwieweit ist denn Individualisierung im Lehrplan vorgesehen und gewünscht?

Harald Egelseer: Die Lehrer sollen auf die Stärken und Schwächen jedes einzelnen Kindes eingehen. Das ist ein sehr hoher Anspruch.

Chris Egelseer: Der neue LehrplanPlus schreibt Lernentwicklungsgespräche vor. Man fragt den Schüler: Hast du dich angestrengt innerhalb deiner Möglichkeiten? Wohin willst du?

Harald Egelseer: Das Lernentwicklungsgespräch kommt von der Montessori-Schule. Da passt es auch hin, aber nicht in die allgemeinen Grundschulen, weil es aufgepfropft ist. Am Ende der vierten Klasse ist es wieder vorbei. Dann geht es um den Übertritt, und es gibt doch wieder Noten. Da sollte man das Lernentwicklungsgespräch lieber gleich bleiben lassen.

Chris Egelseer: Das ist der einzige Punkt, bei dem wir unterschiedlicher Meinung sind. Ich meine, dass das Lernentwicklungsgespräch nicht umsonst ist, trotz der Notengebung für den Übertritt. Denn vorher arbeitet der Lehrer mit dem Kind an seinem Lernweg und zeigt ihm: Du hast alles gegeben.

Christine Gilsbach: Ich bin auch ein Verfechter des Lernentwicklungsgesprächs, aber ich gebe Harald recht: Wir sagen dem Kind, du hast dich toll entwickelt, aber in den Noten spiegelt sich das dann unter Umständen nicht.

Harald Egelseer: Ganz ohne Noten wird es nicht gehen. Die Frage ist nur, wann fange ich an. In der ersten, zweiten, dritten, vierten Klasse? Oder später? Mit einer "5" kriegt ein Kind attestiert, dass es nichts kann. Du kannst doch von einem Kind nicht erwarten, dass es dann mit Freude übt. Wir erreichen bei den schwächeren Kindern mit den Noten nicht das, was wir eigentlich wollen. Nur bei den Guten.

Oftmals wird heute kritisiert, dass Kinder schlecht in Rechtschreibung sind. Woran liegt’s?

Chris Egelseer: Früher bestand die Grundschule nur aus Lesen, Schreiben und Rechnen. Heute verlangt man von den Kindern viel mehr. Und sie können auch viel mehr.

Harald Egelseer: Sie können anders denken, flexibler denken. Aber sie schreiben in der Tat nicht mehr so viel. Es gibt weniger Drill.

Chris Egelseer: Es fehlt auch der Drill durch die Eltern.

Christine Gilsbach: Den Eltern fehlt meistens die Zeit dafür. Ich glaube zudem, dass Rechtschreiben genau wie Kopfrechnen auch eine Konzentrationssache ist. Und unsere Kinder können sich weniger konzentrieren als früher.

Was ist nun Ihr Resümee: Haben Sie damals den richtigen Beruf ergriffen?

Christine Gilsbach: Ich bin jeden Tag gern in die Schule gegangen. Ganz ehrlich: Uns allen fällt der Abschied wahnsinnig schwer.

Sie haben ganze Schülergenerationen von der Grundschule abgehen sehen. Haben die etwas von Ihnen mitgenommen?

Harald Egelseer: Wir leben ihnen vor, freundlich zu sein. Aber wenn sie die vierte Klasse verlassen, dann ist das weg, worauf du als Lehrer Wert gelegt hast.

Chris Egelseer: Nichts ist weg. Sie werden sich erinnern: Da war doch mal ein Egelseer, der war sehr freundlich.

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