Lesewerkstatt der Stadtmission Nürnberg

24.11.2011, 19:46 Uhr
Lesewerkstatt der Stadtmission Nürnberg

© Eduard Weigert

Die 15-jährige Sarah aus dem Irak präsentiert den Kindern ein Bilderbuch. „Wer hat mein Eis gegessen?“, fragt die Heldin auf dem Einband empört. „Ich saß auf einer Parkbank und überlegte hin und her“, liest Sarah. „Wie soll ich mein Eis essen? Auflecken oder lieber in kleinen Happen abbeißen?“ Da fragen Sarah und Nesegül: „Esst ihr gern Eis? Wie schaut euer Eis denn aus? So wie in dem Buch?“

Die Kinder stellen Vergleiche an: „Größer. Kleiner. Bunter.“ Weiter geht es mit der Geschichte. Ein Ungeheuer kommt und sagt: „Du musst das Eis so essen: von unten nach oben. Ich zeig’s dir: So!“ Und schon ist ein Stück Eis weg. Da kommt schon das nächste Ungeheuer und sagt: „Nein, andersrum, von oben nach unten!“ Und so weiter. Und am Ende ist nur noch die Waffel übrig. Doch die kriegt der Riese, der zum Schluss auftaucht, nicht, die gehört nämlich mir! Die Moral von der Geschicht’: Hör bloß auf wohlmeinende Freunde nicht! Und iss dein Eis, wie du es willst!

Also oberflächlich betrachtet eine hübsche Geschichte, mit der unterschwelligen Aufforderung zu Ungehorsam und Eigensinn. Doch die eigentliche Absicht der Vorlesestunde liegt woanders: nämlich in der vielbeschworenen Sprach- und Lesekompetenz. Vorleser gibt es ja überall.

Doch Vorleser mit Migrationshintergrund sind schon etwas dünner gesät. Das Projekt „Lesewerkstatt“ des Jugendmigrationsdienstes – ein Unternehmen der Stadtmission Nürnberg – schlägt nun zwei Fliegen mit einer Klappe: Zum einen will es die deutsche Sprach- und (Vor-)Lesefähigkeit der großen Migrantenkinder ausbauen, zum anderen deren Können gleichzeitig als Anreiz und Vorbild für die Kindergartenkinder präsentieren.

Das will gelernt sein. Die Sozialpädagogin und Leiterin des Jugendmigrationsdienstes, Elke Dörr, hat das Konzept erarbeitet. In einem theoretischen Teil der Vorleseschulung paukten sechs junge Migrantenfrauen im Alter von 15 bis 27 Jahren die Modulation und Intonation der schönen deutschen Sprache, lernten, wie man fließend und lebendig vorliest, dramatische Akzente und spannende Pausen setzt. Also alle Künste, mit denen die legendäre Sheherazade in „1001 Nacht“ den unersättlichen Sultan bezaubert.

Im praktischen Teil ging es darum, wie man den Kontakt mit den Kindern aufbaut, wie man sie auf die Lektüre einstimmt und nach dem Ende aus dem Stoff wieder herausbegleitet. Aber auch, wie man mit Zappelphilipps und unruhigen Kindern umgeht. „Meistens sind die Buben unruhiger als die Mädchen“, beobachtet Nesegül (19). „Wenn ich so einen Buben bemerke, dann lade ich ihn ein, sich neben mich zu setzen, und dann darf er mit ins Buch schauen. Oder ich ermahne ihn dann halt.“

„Mein Lesen ist viel besser geworden“

Was war der Anreiz für die Schülerinnen mitzumachen? „Ich war mir zuerst nicht so sicher, weil ich nicht so viel lese“, gesteht Nesegül, „aber es war mir wichtig, mein Lesen zu verbessern und das Vorlesen interessanter zu gestalten.“ Und Sarah ergänzt: „Mich hat der Aspekt des Ehrenamts gereizt, ich bin ein sozialer Mensch und helfe den Leuten gern. Ich könnte auch im Altenheim vorlesen.“

Doch vor dem Altenheim kommen zuerst die Kindergärten, Horte und Grundschulen dran. Sechs junge Frauen sind bereits ausgebildet (ein fähiger junger Mann sprang leider ab), die vermittelt der Jugendmigrationsdienst nun an diverse Einsatzorte. Das muss natürlich mit den Unterrichtszeiten der Schülerinnen abgeglichen werden, aber der Einsatz lohnt sich auf alle Fälle: „Ich merke schon, dass mein Lesen viel besser geworden ist“, freut sich Nesegül. „Und meine Freundinnen finden das ganz toll“, strahlt Sarah.

Und nächstes Jahr wird das Leseprojekt mit neuen Teilnehmern weitergeführt. Männer sind höchst willkommen.

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