"Der Junge muss...": Aufwachsen zwischen Komik und Tragödie

27.12.2018, 08:00 Uhr

© Warner

"Woher nimmt der Kerl das?", haben sich die Leser angesichts der komödiantischen Kapriolen von Hape Kerkeling oft gefragt. In seinem zweiten Buch ging er selbst dieser Frage nach und versuchte zu erklären, wie er zu dem wurde, der er heute ist. Eingebettet in anekdotischen Erinnerungen an eine Kindheit im Ruhrpott der 70er Jahre schrieb sich der erfolgreiche TV-Komiker ein Trauma von der Seele. Er war gerade acht Jahre alt, als sich seine depressive Mutter das Leben nahm. Dass "Der Junge muss an die frische Luft" trotz des schrecklichen Kernereignisses über weite Strecken ein überaus heiteres, in seiner Grundhaltung überzeugend optimistisches Buch geworden ist, ist der unverlogenen Kraft von Kerkelings Lebensbekenntnissen zu verdanken.

Ein solcher Stoff erfordert bei seiner Übertragung auf die Leinwand viel Sensibilität. Drehbuchautorin Ruth Toma ("Emmas Glück") hat Kerkelings Buch von allem Ballast befreit. Im Film zählt einzig und allein die Sicht des achtjährigen Hans-Peter (Julius Weckauf), den Regisseurin Caroline Link ("Nirgendwo in Afrika") hin und wieder auch kommentierend ins Geschehen eingreifen lässt.

Feierlustige Verwandtschaft

Der Junge wächst im Schoß seiner Großfamilie in Recklinghausen auf. Der Vater (Sönke Möhring) ist oft auf Montage, so ist es an dem aufgeweckten Sohn, seine Mutter Margret (Luise Heyer) mit kleinen Späßen und Show-Einlagen bei Laune zu halten. Ein steter Quell der Inspiration ist das direkte soziale Umfeld. Im Lebensmittelladen der Großmutter lässt sich die tratschende Nachbarschaft bestens studieren, aber auch die feierlustige Verwandtschaft sorgt für kreativen Input: Die Tante, die bei jedem Fest zu Zarah-Leander-Imitationen ausholt, um danach angesichts ihrer Kriegserinnerungen in Heulkrämpfe zu verfallen. Oder Oma Änne (Hedi Kriegskotte), die den Jungen einmal fragt "Willst du ein Pferd?" und wenig später mit ihm in der eigenen Kutsche durch Recklinghausen fährt.

Es sind die patenten Frauen, die in dieser Familie das Sagen haben und den Jungen mit ihrem beherzten Zweckoptimismus prägen. Das verwandtschaftliche Umfeld wird für ihn umso mehr zum Rettungsanker als sich die depressive Mutter zunehmend aus der Welt zurückzieht – bis zu jener Nacht, als sie dem Sohn sagt, dass er bis zum Sendeschluss fernsehen darf. Der Junge gehorcht misstrauisch, schleicht sich nachts zu ihr ins Bett und liegt wie gelähmt neben der Mutter, die eine Überdosis Schlaftabletten genommen hat.

Ohne verstärkende Effekte

Es ist eine Szene, die einem fast das Herz zerreißt, gerade weil Caroline Link sie ohne verstärkende Effekte inszeniert. Wie schafft es ein Kind, nach einem solchen Erlebnis nicht verrückt zu werden? Die Antwort, die Kerkeling und mit ihm der Film gibt, ist von überzeugender Schlichtheit: durch die Liebe derer, die die Verantwortung für das Kind übernehmen.

Genau wie das Buch ist auch dieser Film eine Ode an die Wirkungskräfte der Großfamilie – ein Modell, das es so im Zeitalter beruflicher Mobilität nur noch sehr selten gibt. Natürlich ist "Der Junge muss an die frische Luft" ein ungeheuer sentimentales, aber auch ein ebenso aufrichtiges Werk, von dem man sich ohne faden Nachgeschmack zu Tränen rühren lassen kann. Link weiß, dass Komik und Tragik einander bedingen, sie lässt die gegensätzlichen Elemente verschmelzen und trifft damit die Essenz von Kerkelings Geist. (D/100 Min.)

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