Valsertal: Wenn Fremde Sense und Heugabel schwingen

20.7.2019, 08:00 Uhr
Auch wenn hinterher alle Knochen weh tun: Die Auszeit auf der Alm tut gut.

© Johanna Husarek Auch wenn hinterher alle Knochen weh tun: Die Auszeit auf der Alm tut gut.

Der Postbus zwängt sich durch die schmale Straße des Bergsteigerdorfs. Vorbei an der Kirche, am vorstehenden Fels. Ein paar Bauernhöfe liegen links und rechts. Der Weg wird schmaler. Jetzt sind nur noch steile Wiesen und hohe Berge mit verschneiter Spitze zu sehen. Der Talschluss naht, Endstation „Touristenrast“. Ein paar Schritte über das feuchte Gras, vorbei am dampfenden Misthaufen, einer Kapelle und Kühen, und die Besucher sind da. Am Ende der Welt. Oder bei Helga Hager auf der Alm.

Die Sennerin, Wanderstock, breite Schultern, graue Haare, sonnengebräuntes Gesicht, erwartet ihre Helfer bereits. „Los geht’s!“, ruft sie energisch und gut gelaunt. Dann führt sie die Freiwilligen einen Weg hinauf durch ein Naturschutzgebiet im Valsertal. Voran laufen ihre Ziegen, mit engelsgleichem Gebimmel. „Schaut da, da ist die Mure heruntergekommen“, sagt Hager und durchbricht mit ihrer Stimme das helle Glöckchen-Geläut.

Naturkatastrophe im Herbst

Riesige Felsbrocken liegen im Bachbett, Steine türmen sich zu Mauern, Spuren von Schlamm lassen erahnen, was hier im Herbst passierte. „Ich erkenne die Landschaft kaum wieder“, sagt Hager bedrückt. Ihre Ziegen schickt sie derweil über eine hölzerne Brücke, auf die andere Seite des Baches, wo sie sich vollfressen dürfen. Zeit, über Naturkatastrophen nachzudenken, hat die 57-Jährige jetzt nicht.

Ob Tier oder Mensch, die Arbeit ruft. Bis zum Abend sollen die Ziegen die Büsche und Sträucher am Bachufer kleinkriegen. Für die anderen Helfer geht es noch höher hinauf, auf eine Bergwiese. Die Teilnehmer der „Schule der Alm“ wollen es so: Mit der Sense in der Hand legen sie los, schwitzen mit jedem ungewohnten Schwung, wenden Heu, spalten Holz, bauen Schrägzäune. Ob der Steuerberater aus Münster, die IT–Fachfrau aus Köln oder der Polizist aus Berlin, alle packen mit an. Alois Gatt (72), pensionierter Volksschulrektor des Tals, ist einer ihrer Alm-Lehrer. Ein geborener Pädagoge: „Wird schon“, sagt er immer wieder geduldig zu den Gästen. Selbst wenn die Sense in der Grasnarbe steckt oder der Wetzstein beim Schleifen kratzt statt klingt. Denn ohne fremde Hilfe wären die Bergbauern hier aufgeschmissen.

Werner Kräutler, knallrote Hornbrille, Blaumann, brauner Filzhut, liegt in der Wiese zwischen hohen Gräsern, betrachtet verliebt ein Widderchen, einen rot gefleckten Falter. „Ein wunderschöner Schmetterling, der für Artenreichtum steht“, sagt der Obmann der „Schule der Alm“ begeistert. „Alles, was verschwindet, haben wir hier.“ Kräutler schwärmt gern vom Valsertal. Ein „Sehnsuchtsort“, ein „Tal für Filmaufnahmen“, nennt er es.

Tatsächlich gibt es an den steilen Berghängen so viele Pflanzen und Tiere wie sonst kaum in den Alpen. Darüber kann sich der umtriebige Pensionär mindestens so freuen wie über die Gamswurst beim Metzger unten im Ort, das regionale Bier aus fast vergessener Gerste oder den „Enzianschnaps beim Erich“.

Ein digitaler Stratege und Patriot

Trotzdem ist der ehemalige Regionalentwickler alles andere als ein Träumer. Ständig zückt er sein Handy, geht online, bedient seine 19 Social-Media-Kanäle, postet, schreibt über die „Schule der Alm“ und startet Aufrufe, um die Kulturlandschaft vor dem Verfall zu retten. Er ist ein Netzwerker vor dem Herrn. Ein digitaler Stratege, der versteht, wie man Menschen für die Bergwelt begeistert. Ein Patriot, auch wenn er das Wort, sobald er es ausgesprochen hat, angewidert zurücknimmt.

Dabei wollte der gebürtige Vorarlberger vor ein paar Jahren eigentlich nur durch das „Kaff“ St. Jodok laufen. Aber dann blieb er stehen: Weil Sennerin Helga vor ihrer 300 Jahre alten Holzhütte hektisch hin- und herlief und vor lauter Arbeit nicht mehr wusste, wohin. Also half er. Hackte Holz, trieb Kühe an Wasserfällen vorbei, machte Heu. Am Ende blieb er drei Wochen. Dann gründete er mit Bergbauern und Freunden die „Schule der Alm. Ein Verein zur Erhaltung von Almen und Bergmähdern.“ 

Werner Kräutler kann sich über vieles freuen - auch über diese neugierige Ziege. Er will das Valsertal in seiner Ursprünglichkeit erhalten.

Werner Kräutler kann sich über vieles freuen - auch über diese neugierige Ziege. Er will das Valsertal in seiner Ursprünglichkeit erhalten. © Johanna Husarek

Die Idee ging auf. Die Nagelprobe, wie Kräutler sagt, hat das Projekt bestanden. Nachdem eine Staublawine eine Alm mit Ästen unter sich begraben hatte, rückten in diesem Frühjahr 30 Freiwillige an. Die Frauen und Männer schufteten, bis ihnen der Schweiß auf der Stirn stand, schleppten Bäume beiseite, sammelten Zweige auf. Schubkarre für Schubkarre. So lange, bis die Wiese für die Kühe als Weide wieder brauchbar war. Die Angst der Einheimischen vor „den Grünen und den Fremden“ ist trotzdem noch da.

Früher hätte in der Not das Dorf geholfen. Doch die Zeiten ändern sich — selbst in Vals. Denn auch in dem „Tal von Hinterwäldlern“, wie ein Einheimischer schlitzohrig bemerkt, ist die Moderne angekommen. Auf dem Dorffest gibt es jetzt Kondensmilch in Plastikdosen statt frischer Kuhmilch zum Kaffee. Die Almbutter, die bis vor Kurzem noch auf dem Kirchenfenster für alle zum Abholen bereit lag, wollen viele jetzt nach Hause geliefert haben. „Aber das mache ich nicht“, sagt Bergbauer Hans Holzmann bestimmt.

Lebensraum für seltene Pflanzen und Tiere

Der muskulöse Landwirt, der stets barfuß unterwegs ist, hält als einer der Letzten im Tal die Almen und die Bergmahd als kulturellen Schatz hoch. Von 40 Bauern denken gerade mal noch zehn so wie er. Denn die Wiesen zu mähen, heißt nicht allein, Futter für die Tiere im Stall zu gewinnen. Sondern weit mehr: Seltene Pflanzen und Tiere finden hier Lebensraum. Und die gepflegten Berghänge können Lawinen und Muren bremsen. Die anderen wirken bei Naturkatastrophen wie Schmierseife. Sogar bei Helga Hager, die ihre Tiere noch per Hand melkt, das Essen auf dem Holzherd kocht, und das Heu in Körben die Berge hinaufschleppt, geht es manchmal modern zu. „Ich schau mal, wo meine Ziegen sind“, sagt sie und bleibt schlagartig stehen. Blickt auf ihr Handy und ortet die Geißen per GPS. „Ach da sind sie“, sagt sie beruhigt und zieht weiter zur Almwiese.

Ausgewählte Adressen für Almkurse:

Schule der Alm im Valsertal:
Schnupperwochenende und Drei-Tages-Kurse, www.wipptal.at oder www.helgasalm.at

LFI — Ländliches Fortbildungsinstitut in Österreich:
Infotage, zweitägiger Grundkurs für Almpersonal und andere Seminare, www.lfi.at

Hof Till — Bauernhof im Südschwarzwald:
Schnupperkurs Alp,  www.hof-till.de

Almwirtschaftlicher Verein Oberbayern:
zweitägiger Almschnupperkurs, www.almwirtschaft.net

Plantahof in Landquart — Landwirtschaftsschule in der Schweiz:
Verschiedene Seminare vom Alphirtenkurs bis hin zum Sennerseminar,  www.gr.ch

Weitere Anbieter:
DAV Summit Club, einige Volkshochschulen (etwa Pfullingen oder Traunstein) und die Ämter für Ernährung, Landwirschaft und Forsten in Bayern.

Der Niedergang der Almen:

Eine Almhütte zum Einkehren mit Blick in die Berge— eine Urlaubsidylle, die weit entfernt scheint vom Niedergang artenreicher Wiesen und Almen. Doch die Zahlen widersprechen jeder Romantik: in den letzten 150 Jahren ist die Zahl der Bergwiesen, die einen bedeutenden ökologischen Wert besitzen, stark zurückgegangen. Gerade die uralten, hochgelegenen Almen wurden zuerst aufgegeben.

Der Niedergang der Almen begann in den 1960er und 1970er Jahren: Durch die relativ geringen Erträge, verbunden mit schwerer Arbeit, schien das Ende der Almen bevorzustehen; sie passten nicht zum damaligen Fortschrittsdenken. In Tirol und Bayern sind seither zehn bis 15 Prozent aufgegeben worden, in den Südalpen 50 bis 60 Prozent der Almen, betont der Erlanger Alpenforscher Werner Bätzing.

Ab etwa 1985 ging es wieder leicht bergauf: Käse vom Senner, Heumilch, Almbutter und andere Produkte erleben bis heute eine starke Nachfrage. Oft werden sie auf den Almen direkt an Gäste und Touristen verkauft. Dennoch ist die Almwirtschaft durch den allgemeinen Rückgang der Viehhaltung weiterhin gefährdet.

Zum Vergleich: 1997 gab es in Österreich mehr als 12.000 bewirtschaftete Almen. Inzwischen sind es nur noch knapp 9100.

Ein kleines Alm-ABC:

Alm (bayrisch), Alp, Alpe oder Alb (alemannisch)
Bezeichnet die während der Sommermonate benutzten Bergweiden, die Hütte und andere Anlagen wie Wege, Zäune, Energie- und Wasserversorgung. Es gibt Almen in öffentlicher Hand, in Gemeinschaftsbesitz und private Almen.

Almtypen
Je nach Höhenlage wird eine Alm als Nieder-, Mittel- oder Hochalm bezeichnet. Typisiert man sie nach Tieren, so kann man Kuhalmen, Galtalmen (mit Rindern und Jungvieh, das noch keine Milch gibt), Ochsen- und Stieralmen, Pferde-, Schaf-, Ziegen-, und gemischte Almen unterscheiden.

Almauftrieb und -abtrieb
Zeitpunkt, an dem die Tiere auf die Alm gebracht oder getrieben werden. Der Abtrieb wird gefeiert. Dazu werden die Tiere festlich geschmückt — aber nur, wenn es während des Sommers keinen schweren Unfall bei Mensch und Tier gab. In einigen Regionen heute folkloristisches Großereignis.

Bergmahd
In der Zeit, die das Vieh auf der Alm verbringt, schneiden die Bergbauern das Heu. An den steilen Hängen geschieht dies auch heute noch großteils von Hand und mit Steigeisen. Das Heu müssen die Helfer oft auf dem Rücken zum nächsten Sammelplatz oder Schober tragen. Bei Bedarf bringen sie es im Winter auf Schlitten ins Tal.

Heuziehen
Das Heuziehen im Winter auf selbst gebauten Schlitten gilt als eine der gefährlichsten Arbeiten in den Bergen. Eine Fuhre getrocknetes Gras wiegt rund 140 Kilo. Der Transport durch steiles Gelände ist auch aufgrund von Lawinen gefährlich.

Verbuschung
Das Ausbreiten von Holzgewächsen (Latschen, Grünerlen, Sträuchern) auf Almweiden. Wo steile Hänge verbuschen, wächst die Gefahr von Lawinen und Muren. Denn ungemähte Wiesen als Untergrund wirken wie „Schmierseife“.

 

 

 

Verwandte Themen


Keine Kommentare