Zwist im Moor an der deutsch-holländischen Grenze
11.7.2020, 07:44 UhrWenn Silke Hirndorf aus dem Fenster ihrer Wohnung im Pfarrhaus der Nazarethkirche in Twist schaut, blickt sie auf blühende Heide, Wacholder und einen kleinen Schutzstand für Schafe. Schon beim Aufwachen erinnert die Biologin ihr in mehrjähriger Arbeit angelegter Kulturhistorischer Heidegarten daran, wie die Landschaft im Emsland hier einst aussah.
„Nicht nur hier“, weiß die Naturpädagogin, „sondern fast von Groningen im Norden bis in die Grafschaft Bentheim im Süden.“ Mit mehr als 200 Quadratkilometern war das riesige Bourtanger Moor an der Grenze zwischen Holland und Deutschland das größte zusammenhängende Moor Westeuropas. Spannende und schaurige Geschichten spielten sich im feucht-kargen Landstrich zwischen den beiden Nachbarländern ab, die von Schmuggel und Weiderechten handeln.
Der Ort Twist bedeutet "Streit" um karge Futterplätze
„Hochprozentiges, Kaffee oder Tabak wurde über die Grenze geschmuggelt“, erzählt Hirndorf über ihre Heimat, deren Besiedlung erst im 18. Jahrhundert begann. „Twist bedeutet Zwist, also Streit, der manchmal tödlich endete – dabei ging es oft um die besten Futterplätze für die Tiere in der Moorkolonie.“
Auch der Grenzverlauf war lange unklar und umstritten, weil die arme Region im Emsland vor der Erschließung als menschenfeindlich und unfruchtbar galt. „Wo die Kultur aufhört, fängt Deutschland an“, hieß es in Holland knapp. Das änderte sich schlagartig mit der Trockenlegung der vor rund 10.000 Jahren nach der letzten Eiszeit entstandenen Hochmoore durch die Torfgräber, die die Feuchtgebiete mit Kanälen trockenlegten und mit Torfspaten ihr „Dagwark“ verrichteten: Torfstücke abstechen, die zur Düngung oder zum Heizen dienten.
Der industrielle Abbau im 20. Jahrhundert ließ von der ursprünglichen Landschaft nicht mehr viel übrig, erfahren Besucher im Emsland Moormuseum im nahen Groß Hesepe. In zehn Jahren wird der Torfabbau im Emsland endlich eingestellt. Und das Moor erhält eine Chance, seine alte Vielfalt wiederzuerlangen.
Wie diese aussehen wird, erleben wir rund zwanzig gemeinsame Radminuten später im Bargerveen: Das renaturierte Moor liegt im Herzen des Naturparks Moor-Veenland. In dem seit 2006 bestehenden deutsch-holländischen Naturschutzgebiet dürfen sich nach Jahrzehnten des menschlichen Raubbaus Flora und Fauna auf 2500 Hektar wieder frei ansiedeln. „Mich fasziniert es immer noch, zu sehen, wie mit dem Wasser auch die Natur zurückkommt“, freut sich Silke Hirndorf, die auch Naturpark-Botschafterin ist.
Neue Dämme umschließen auf dem holländischen Teil das Amsterdamsche Veeld, auf das wir von einem Aussichtsturm blicken. „So kann sich das Regenwasser sammeln – zunächst siedelt sich Wollgras an, das im Frühjahr flauschig-weiß wirkt. Dann kommen Torfmoose. Und ganz langsam regeneriert sich das Moor wieder.“ Ein Prozess, der einige Jahrzehnt dauert.
Hirndorf liebt alle Jahreszeiten im Moor: „Im Frühjahr blüht es, im Sommer sind nur wenige Vögel da. Und im Herbst machen zehntausende Zugvögel hier Rast, vor allem Gänse. Aber sogar Raubvögel wie Fischadler und Rotmilan sind wieder heimisch“. Auf der Weiterfahrt entlang der grünen Grenze stoppt Hirndorf immer wieder und zeigt auf die zahlreichen Libellen: „Von den etwa vierzig Libellenarten in Deutschland leben zwei Drittel im Moor“, so Hirndorf, die fließend Holländisch spricht.
Wir machen eine kulinarische Pause im Garten des Theetuin d’Aole Pastorie, des früheren Pastorenhauses im holländischen Zwartemeer, bei einem Stück „Bargerveen Tufje“. Der Schokoladenkuchen gleicht einem Stück gestochenen Torfs. Unsere Runde ums Bargerveen endet im Venloopcentrum in Weiteveen. Als eine von acht Pforten zum Naturpark vermittelt es Besuchern in einer kleinen Ausstellung Hintergründe zu Vergangenheit und Zukunft des Moors, dort starten auch Moorwanderungen mit Guide.
Durch Aufessen alte Arten erhalten
Abends geht’s in den Landgasthof Backers. Seit sechs Generationen ist das Restaurant in Twist-Bült an der holländischen Grenze schon in Familienbesitz. In den letzten fünfzehn Jahren hat Helmut Backers mit seiner Küche das Stammhaus seiner Frau weit übers Emsland hinaus bekannt gemacht. „Regional und saisonal habe ich schon immer gekocht“, sagt der gebürtige Dortmunder, „doch erst mit dem Trend zum Slow Food kam der große Zuspruch.“
Backers Salat wächst im eigenen Gemüsegarten. Ebenso viele Kräuter und alte, fast vergessene Gemüsesorten wie Pastinaken oder die gelbe Mohrrübe. Wild bezieht Backers von Jägern aus der Nachbarschaft. Und selbst beim Schweinefleisch achtet der Fan westfälischer Kochkunst auf die Herkunft: „Das Schweinefleisch stammt vom Moormuseum, das auch alte Haustierrassen hält. Wir müssen die alte Vielfalt bewahren“, so Backers. „Erhalten können wir hier vor allem durch Aufessen“.