Überraschender Fund

Kartons im Keller: FCN stößt auf Mitgliederkartei aus Nazi-Zeit

15.6.2021, 18:33 Uhr
Jenö Konrad, Trainer mit jüdischer Herkunft, wurde 1932 von den Nazis vertrieben. 2012 erinnerten die Fans mit einer imposanten Choreografie an ihn, 2013 ernannte ihn der Club posthum zum Ehrenmitglied. 

© Sportfoto Zink / DaMa Jenö Konrad, Trainer mit jüdischer Herkunft, wurde 1932 von den Nazis vertrieben. 2012 erinnerten die Fans mit einer imposanten Choreografie an ihn, 2013 ernannte ihn der Club posthum zum Ehrenmitglied. 

In der 2018 erschienenen "Chronik", dem umfangreichsten Werk zur Geschichte des 1. FC Nürnberg, ist zu lesen, dass heute nicht mehr geklärt werden könne, wie viele jüdische Mitglieder der Verein in der Nazi-Zeit ausgeschlossen hat: "Im Archiv des 1.FC Nürnberg sind keine entsprechenden Unterlagen mehr vorhanden."
Bernd Siegler ist einer der drei Autoren der Chronik, und doch freut es ihn immens, dass dieser Satz überholt ist. Der Sozialwissenschaftler, der seit über 25 Jahren über den Club und seinen Umgang mit Mitgliedern jüdischen Glaubens forscht, kann nun bei seinen Recherchen aus dem Vollen schöpfen.

Nur Hertha BSC hat ähnliche Datenbasis

Ein Hausmeister hat in einem Keller auf dem Vereinsgelände am Valznerweiher die Mitgliederkarteien aus den Jahren 1928 bis 1955 gefunden. "In 15 Kartons befanden sich 12.000 Karteikarten", sagt Siegler. Der Verein habe nicht damit gerechnet, auf diese Unterlagen zu stoßen: "Nur Hertha BSC verfügt über komplette Mitgliederdaten aus dieser Zeit."

Diesen Schatz hüte man schon seit Ende 2020, berichten Katharina Fritsch, beim Club für Unternehmenskommunikation zuständig, und der Buchautor. Aber man habe erst an die Öffentlichkeit gehen wollen, wenn man erste Auswertungen vorgenommen habe. Die liegen nun vor. Auf 143 Karteikarten findet sich Siegler zufolge der Stempel, dass die Mitglieder zum 30. April 1933 den Verein verlassen haben.

Da der Club – wie Siegler bereits in früheren Veröffentlichungen schrieb – am 27. April den Rauswurf seiner Mitglieder jüdischen Glaubens im vorauseilenden Gehorsam (die Gleichschaltung der Vereine erfolgte erst im Juli) beschlossen hat, liegt es nahe, dass bei diesen 109 Männern und 34 Frauen die antisemitische Klausel gegriffen hat. In 121 der 143 Fälle, so Siegler, habe er die jüdische Herkunft der Betroffenen inzwischen nachweisen können. Das erfordere einen gewissen Rechercheaufwand: "Der Club hat beim Vereinseintritt die Religionszugehörigkeit nicht abgefragt." Deswegen müsse man in jedem Fall prüfen, ob wirklich die jüdische Herkunft Grund für den Ausschluss gewesen sein kann.

Der Mehrheit gelang die Flucht

86 dieser 121 Männer und Frauen gelang Siegler zufolge die Flucht vor den Nazis, neun fielen der Diktatur zum Opfer, bei 26 ist das Schicksal noch ungeklärt. Doch ihm sei es wichtig, dass hinter solchen Zahlen auch Gesichter kenntlich werden. Einige der Biografien hat Siegler inzwischen rekonstruiert. Etwa den Fall des 1909 geborenen Fritz Löb, der in der Hochstraße 20 in Nürnberg wohnte und 1921 beim Club eintrat, um dort Fußball zu spielen.

Er ging nach Frankreich in die Fremdenlegion. Nachdem Hitlers Wehrmacht in Frankreich einmarschiert waren, wurde er 1942 verhaftet, deportiert und 1943 für tot erklärt. Auch den Tuchgroßhändler Justin Isner, 1922 beim Club eingetreten, ermordeten die Nazis. Er starb 1942 in Auschwitz. Die 1927 geborene Ilse Bechhold spielte als Kind beim Club Tennis. Sie überlebte die NS-Diktatur und arbeitete später in New York als Künstlerin. Im Alter litt sie an Demenz. 1992 setzte ihr Mann seinem und ihrem Leben ein Ende.

Brief aufbewahrt

Unabhängig von der Club-Mitgliederkartei konnte Siegler dank eines Fundes im New Yorker Leo-Baeck-Institute bereits in der eingangs erwähnten "Chronik" das Schicksal des Kaufmanns Franz Anton Salomon nachzeichnen.

Club-Historiker Bernd Siegler beschäftigt sich seit mehr als 25 Jahren mit der Geschichte des 1.FC Nürnberg. 

Club-Historiker Bernd Siegler beschäftigt sich seit mehr als 25 Jahren mit der Geschichte des 1.FC Nürnberg.  © Eduard Weigert, ARC

Der 1993 gestorbene Salomon, der im amerikanischen Exil geblieben war, hat den Brief, mit dem ihm der Club über die Streichung informierte, ein Leben lang aufgehoben. "Das zeigt, welchen Stellenwert die Vereinsmitgliedschaft für ihn hatte", sagt Siegler.

Betroffene sollen posthum Mitglied werden

Diese Mitgliedschaft sollen die Betroffenen posthum zurückbekommen, kündigt Finanzvorstand Niels Rossow an. Zwar sind die Ausschlüsse in einem feierlichen Akt bereits 2013 zurückgenommen worden, damals aber kannte man keine Zahlen und kaum Namen. Rossow schwebt auch eine Ausstellung zum Thema vor, zudem wolle man den Fund für universitäre Forschungsprojekte nutzen. "Fußball hat eine enorme Reichweite, jeder Zweite bezeichnet sich als Fußball-Fan." Diese Reichweite wolle man für soziale Zwecke nutzen, seiner gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden.

Und deswegen könne auch mithilfe des Sports gegen Rassismus und Antisemitismus vorgegangen werden, glaubt der Finanzvorstand. Jo-Achim Hamburger, Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde, begrüßt diese Bestrebungen. Er könne nicht verstehen, warum der Begriff "Rasse" nicht endlich aus dem Grundgesetz verbannt werde: "Es gibt Menschen, keine Rassen."

Neue Formen des Ausschlusses

Anatoli Djanatliev, Chef des Vereins TSV Makkabi, sagt, dass man heute als Jude nicht mehr formal aus einem Verein ausgeschlossen werde. "Aber es gibt andere Formen des Ausschlusses. Wenn einem das Gefühl gegeben wird, nicht dazu zu gehören." Deswegen sei es wichtig, die Geschichte weiter aufzuarbeiten.
Bernd Siegler kann sich vorstellen, dass die neuesten Erkenntnisse auch wieder in ein Buchprojekt münden. "Wir bleiben am Ball."

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