Das Tiergärtnertor - Visitenkarte des alten Nürnberg

21.12.2018, 16:42 Uhr
Die verschneite Feldseite des Tiergärtnertors im Jahr 1908. Das kleine Häuschen auf der Mauerkrone neben dem Turm wurde im Krieg zerstört.

© Hermann Martin (Sammlung Sebastian Gulden) Die verschneite Feldseite des Tiergärtnertors im Jahr 1908. Das kleine Häuschen auf der Mauerkrone neben dem Turm wurde im Krieg zerstört.

Der Grat zwischen Kunst und Kitsch ist manchmal äußerst schmal. Das lässt sich in Nürnberg an kaum einem Ort besser aufzeigen als am Blick vom Vestnertorgraben auf das Tiergärtnertor. Ansichtskartenverleger Hermann Martin ließ seine Version anno 1908 so lange retuschieren, bis sie mehr wie ein Gemälde denn wie eine Fotografie wirkte – Schneepracht und Schäfchenwolken inklusive. Im vorweihnachtlichen Adventstaumel dürfte sich die Karte damals verkauft haben wie geschnitten Brot.

Nürnbergs Bilderbuch-Stadttor besteht aus zwei Teilen: Das eigentliche Tor führt heute in einem Bogen durch eine gewaltige Bastion, die Festungsbaumeister Antonio Fazuni 1538–1545 errichtet hat. Bis dahin lag der Durchgang im Erdgeschoss des Torturms (das Gewände des Portals ist noch an der Stadtseite sichtbar), der im Kern aus dem 13. Jahrhundert stammt.

Das Tiergärtnertor - Visitenkarte des alten Nürnberg

© Sebastian Gulden

1516 erhielt er die beiden charakteristischen Obergeschosse mit eckseitigen Erkern und Spitzhelm. Seinen merkwürdigen Namen verdankt das Tor übrigens einem Gehege, in dem die Nürnberger Burggrafen im Mittelalter Wild hielten. Es befand sich an der heutigen Roritzerstraße nahe der Einmündung in den Kirchenweg.

Die Architektur des Tiergärtnertors widerlegt auf eindrückliche Weise das weit verbreitete Klischee, dass mittelalterliche und frühneuzeitliche Befestigungen und -tore reine Zweckbauten darstellten. Vielmehr waren sie Visitenkarten, ins Umland strahlende Landmarken und Wahrzeichen einer Stadt. Nicht umsonst zieren der Nürnberger Mauerring und seine dicken Rundtürme noch heute diverse Gebrauchsgegenstände von der Sparbüchse bis zur Lebkuchendose.

Selbst nachdem die moderne Kriegstechnik die Befestigungen obsolet gemacht hatte, blieb der Torturm in Nutzung: Zusammen mit dem benachbarten Pilatushaus und dem Toplerhaus an der Oberen Söldnersgasse war der Tiergärtnertorturm 1853–1857 erste Heimstatt des Germanischen Nationalmuseums.

Die Stadtseite des Tores anno 1904. Die Ruhe trügt: Auch damals schon strömten die Touristen auf den Platz.

Die Stadtseite des Tores anno 1904. Die Ruhe trügt: Auch damals schon strömten die Touristen auf den Platz. © Verlag Dr. Trenkler (Sammlung Sebastian Gulden)

Der mächtige Bau mit seinen Scharten und Maßwerkfenstern musste dem mittelalterbegeisterten Museumsgründer Hans von und zu Aufseß, der sich auch schon mal in einer Ritterrüstung fotografieren ließ, als ideale Präsentationsfläche für die Sammlungen erscheinen.

Schon im 19. Jahrhundert war das Tiergärtnertor bei Touristen derart beliebt, dass ein Abbruch nie zur Debatte stand, während andernorts große Teile des Mauerzuges um des Verkehrs willen geschleift wurden. 1894 wurden allerdings zumindest die Portale aufgeweitet, sodass das Tor zweispurig befahren werden konnte.

Zum Schluss noch ein bisschen weihnachtliche Kulturgeschichte: Vielen wird der christbaumtragende Jüngling auf der historischen Ansicht der Feldseite Rätsel aufgeben. Warum steuert er so zielsicher auf die Brüstung der Mauer zu? Will er etwa das Bäumchen in den Graben werfen?

114 Jahre später hat sich scheinbar wenig geändert. In die Gebäude neben dem Tor sind die Cafés „Töpferei“ und „Wanderer“ eingezogen.

114 Jahre später hat sich scheinbar wenig geändert. In die Gebäude neben dem Tor sind die Cafés „Töpferei“ und „Wanderer“ eingezogen. © Sebastian Gulden

Weit gefehlt! Den St.-Knuts-Tag (13. Januar), an dem die Skandinavier traditionell ihre Christbäume entsorgen, kannte in Nürnberg vor rund einem Jahrhundert kaum jemand. Die Positionierung des jungen Herrn liegt schlicht und ergreifend daran, dass die Figur nachträglich einmontiert wurde – einen Christbaumträger in Rücken- oder Frontansicht gab das Vorlagenbuch offenbar nicht her.

Und dann erscheint uns Heutigen der Christbaum, den der Bursche bei sich trägt, doch ziemlich mickrig. Damals waren die Kaventsmänner, die heute die Wohnzimmer zieren, unüblich, zudem es sich oft nicht um Tannen handelte. Oft gab man sich mit der abgesägten Spitze einer Fichte zufrieden. Das erklärt auch, weshalb die Nordmänner unserer Tage nicht mehr in die schönen alten Ständer passen, die für einen viel geringeren Stammdurchmesser gedacht waren.

Heute sind die Christbäume viel größer und der Vorweihnachtsstress leider auch. Da lohnt es sich, einen Moment innezuhalten und eine der schönsten Ausblicke auf unsere Altstadt und ihr wohl schönstes Tor zu genießen.

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