Die liebevolle Sicht der Dinge
21.7.2010, 00:00 UhrIn der Bundesrepublik haben derzeit rund 52 Staatstheater 2500 Arbeitsplätze für Tänzerinnen und Tänzer. Schwer, derlei Aussichten für den Nachwuchs rosig zu nennen. Aber wie inspirierend kann es sein, wenn der Nachwuchs im bestens besuchten Schatzkästchen namens Stadttheater zeigen darf, was er kann. Ist es nicht auch so, dass der C-Jugendfußballer plötzlich bis in die Haarspitzen motiviert ist, wenn der Schiri-Pfiff mal nicht wie sonst über den Dorfacker weht, sondern durch den Ronhof?
Es ist genau dieses anspornende Gefühl, das Julia Vitez’ Mädchen (und immerhin vier Jungen) zu einer ehrenwerten, körperspannungsvollen, aber niemals kühlen Performance treibt. Das Ambiente des Fürther Hauses passt wie ein Handschuh zu „Ballett 2010“, denn Arabesque-Chefin Vitez, die mit ihrem Studio in der Schwabacher Straße vor zwei Jahrzehnten loslegte, hat ein Anliegen. Ihre Compagnie knattert nicht affektiert-hochtourig durch den Saal, sie setzt nicht auf Überwältigung durch den saubersten aller Spitzentänze — für derlei Dinge ist kein Mensch je nach Fürth gefahren — und durch Sprünge, die die Welt noch nie sah. Nein, sie macht etwas anderes; sie macht Theater.
Der Zuschauer ist nicht Zeuge von Drillkunst, sondern von Ballett-Bühnenzauber, der bis in kleine Kostümdetails wirkt. Diese dem Theater so liebevoll zugewandte Sicht der Dinge ihren Schülern und all den Eltern, Geschwistern und Großeltern im Saal zu vermitteln, ist Vitez’ Verdienst.
Zudem braucht sie die Illusionsmaschine Theater — das Gassenlicht, den Gazeschleier und die Tuchbahnen im „Zauberlehrling“ — nicht, um Murks zu kaschieren. Ihre neue Choreografie zu Sergej Prokofjeffs (hier übrigens musikalisch besonders knackig interpretierter) „Symphonie classique“ hat reichlich Spitzen-Schwierigkeiten, die die Mädchen prima meistern. Im turbulenten Finalsatz exakt auf der richtigen Zählzeit mit Fußwechseln auf die Bühne zu kommen — das ist choreografisch-musikalisch elegant gedacht, wenngleich hochvertrackt, wird tänzerisch aber tadellos ausgeführt. Die Bewegungsenergie in Paul Dukas’ „Zauberlehrling“ überträgt Vitez in eine adäquate Bild- und Körpersprache; zudem sind immer wieder kleine Dosen Humor im Spiel, im Fall der mit frischen Jazztanzelementen versehenen „Tribulation“ zur Musik René Aubrys auch Sexyness.
Fünf Evergreens aus dem „Nussknacker“ sind ebenfalls neu im Arabesque-Repertoire. Bis hin zu den Allerkleinsten ist zu sehen, dass Vitez viel fordert, aber nicht überfordert. Ihre Besten (Alexandra Blaga, Andrea Seewald, Viola Windisch, Tanja Wrosch) tun beim Csárdás nicht wie Temperamentsbestien mit Paprika im Blut; dafür liefern sie aber sauberes (Volkstanz-)Handwerk ab. Warum während des Tschaikowsky-Divertissements im Hintergrund allerdings Fotos von Schloss Burgfarrnbach zu sehen waren, bleibt das große Arabesque-Geheimnis. Ob der Mäusekönig vor den Toren Fürths residiert?
Zum Scharfrichter
Zu Beginn der Gala hatte Arabesque-Mitstreiterin Ursula Babari zwei Sätze aus Berlioz’ „Symphonie fantastique“ für zehn hochkonzentrierte Tänzerinnen mit zahlreichen fusionierenden Elementen aus klassischem und modernen Tanz versehen — sah gut aus, wurde jedoch der dramatischen Wucht der Musik nicht ganz gerecht. Im „Marche au supplice“ wartet doch der Scharfrichter, und gemessen daran ließ es Babari zu verspielt, zu ausgetüftelt angehen.
Gefeierter „Stargast“ der Gala war selbstredend Christoph Schedler, der mit 12 Jahren als Arabesque-Zögling den Talentpreis des Theatervereins erhielt und nun, mit 19, beim Thüringenballett in Gera, größte Compagnie des Freistaats, seinen Weg geht. Sprünge, Pirouetten, Präsenz - der junge Mann hat alles, was man von einem Profi erwarten kann. Natürlich verfehlt denn auch sein torkelnd-qualmender „Bourgeois“ in Ben van Cauwenberghs Choreografie zu Jacques Brels Musik seine Wirkung nicht.
Dass der qualitative Abstand Schedlers zu den Schülerinnen riesig ist, möge eine motivierende, keine niederschmetternde Erkenntnis sein. Ebenso, dass es einer geschafft hat — einer unter 2500. Vielleicht schon zum nächsten „runden“ Jubiläum wird Vitez ein neues Zugpferd brauchen. Wo ist es?