Ergreifende Klage

30.11.2018, 18:15 Uhr
Ergreifende Klage

© Foto: Thomas Scherer

"Umbrüche anno 18", das verbindende Motto der Kirchenmusiktage 2018 zum Fürther Stadtjubiläum, ließ beim Konzert in St. Michael neue, aufregende Entdeckungen zu. 1918 kam Leonard Bernstein auf die Welt, mit jüdischen Wurzeln und weltweit gefeiertes charismatisches Multitalent als Pianist, Dirigent und Komponist. Ebenso Jahrgang 1918 ist der auf Fotos oft so fröhlich dreinblickende Rheinländer Bernd Alois Zimmermann, aus ländlich-katholischem Milieu der Eifel, dessen kompositorische Rezeption umstrittener und dessen Lebenslauf dramatischer als Bernsteins endete. Kammermusikalisch zurückgenommen ging es bei den Interludien des an der Dambacher Erlöserkirche arbeitenden jüngeren Komponisten Johannes Brinkmann zu.

Ingeborg Schilffarth hatte selten gespielte Werke dieser Komponisten ausgewählt und sich dafür der musikalischen Partnerschaft der Staatsphilharmonie Nürnberg versichert, die in der Meistersingerhalle in diesem Jahr bereits beeindruckende Aufführungen beider Komponisten gegeben hatte. Seine 1. Symphonie "Jeremiah" schrieb Bernstein 1942 unter dem Eindruck einer weltweiten Glaubenskrise; die abschließende Lamentation von acht Versen aus dem hebräischen "Klagelied Jeremias" über die Zerstörung des heiligen Jerusalem wird wie im Rückgriff auf den traditionell im jüdischen Gottesdienst praktizierten Sprechgesang solistisch vorgetragen. Solgerd Isalv gab mit voluminösem Mezzosopran berührende Momente dieser melodischen Motive, stellte anfangs mehr die dramatische Klage heraus, blieb deklamatorisch stark auch über markantem Orchestertutti. In zarten Piano ließ sie die Frage "Warum willst du uns so ganz vergessen?" ausklingen

Ohne Ablenkung durch Textbezug die Gedanken frei schweifen lassen: in Johannes Brinkmanns "Spagat neben der Klippe"  wurde die kompositorische Vielfalt des Werks vom Soloflötisten Jörg Krämer in stupende instrumentale Virtuosität umgesetzt: tonlose luftige Melodien überblasen, Perkussion der Lippen auf dem Mundstück, vibrierender Luftstrom, mit Summton das Instrument in Resonanz bringen: herrliche lippenzwinkernde Einfälle.

Als Bienenliebhaber gab sich Brinkmann bei der Uraufführung seines Streichsextetts "Hexapoda – Irreale Sequenzen" zu erkennen. Eine rhythmische Motivzelle wird Ausgangspunkt von instrumentaler Interaktion, lässt durchaus real scheinbar ungeordnetes Summen, Krabbeln, Schwärmen eines Bienenvolks heraushören. Und fast wie ein heimlicher Regieeinfall: Der Saitenriss der Bratsche erlaubte, das Werk gleich doppelt zu erleben.

Wie ein Aufschrei gegen die Aussichtslosigkeit seines Lebens lässt Bernd Alois Zimmermann seine "Ekklesiastische Aktion" erscheinen. Texte des alttestamentarischen Buches Prediger werden mit Passagen aus Dostojewskis "Brüder Karamasow" kombiniert. Dort gibt es eine Szene, in der Jesus, zurückgekommen auf die Welt, von einem Großinquisitor verhört wird. Dessen Vorwurf: Jesus habe den Menschen eine Freiheit aufgebürdet, mit der sie nichts anzufangen wissen, alles sei eitel und ein Haschen nach dem Wind.

Wie in einem Drama aufgeteilt rezitieren zwei Sprecher die Texte, geraten immer mehr in eine aufrüttelnde Auseinandersetzung. Daniel Dropulja füllt die Rolle des ersten Predigers mit ungebrochenem, fast distanzierten Ton, begleitet von eher getragener, volltönender serieller Musik der Philharmoniker. Sibrand Basa, den Dostojewskij-Sprecher, umgibt eine ganz anders komponierte, schrill zerfurchte Geräuschmusik mit massiven Schlagwerk-Einwürfen.

Zunächst karg und asketisch, dann immer mehr in eine rhythmisiert mimisch-gestische Aktion, Sprünge und Schreie steigernd erhebt er die schmerzhafte Anklage gegen den Gottessohn. Wie in einer Kontemplation nimmt Bariton Matthias Horn Sätze auf, verschärft die Provokation, lässt in einer erschütternden Vokalise die Ungeheuerlichkeit des Konflikts geradezu körperlich fühlbar werden – ein weiteres bewegendes Lamento von Augenblicken eines unlösbaren Lebenspessimismus.

Ähnlich wie in Alban Bergs Violinkonzert steht am Ende das Zitat von Bachs Choral "Es ist genug", hier aus der Emporenhöhe berührend vorgetragen vom philharmonischen Bläserquartett. Es steht für Frieden und Erlösung, war für Zimmermann aber keine Lösung. Kurze Zeit nach Beendigung seiner "Ekklesiastischen Aktion" nahm er sich das Leben.

Wieder ein exemplarischer Beitrag aus der Region zum Zimmermann-Jahr 2018, in dem Ingeborg Schilffarth dieses Vermächtniswerk mit meisterhafter Übersicht leitete. Sie ließ den Solisten viel Raum zu Gestaltung und Improvisation, entwickelte im schmalen Kirchenraum von St. Michael Momente eines unmittelbar aufwühlenden Erlebnisses.

In Bernsteins Chicester Psalms konnten die klangprächtige Fränkische Kantorei sowie transparent und filigran musizierende Philharmoniker dem Publikum wieder optimistischere Töne mitgeben. Bernstein deutete an, dass Glaube durch die Rückkehr zu Unwissen und Unschuld der Kinder erlangt werden kann, dass womöglich Erkenntnis selbst bereits Leiden ist. In einem seiner eingängigsten Stücke ist freudiges Vertrauen auf Gott offenkundig im Ausdruck der Dur-Tonalität finden. Chor und Orchester wurden von Schilffarth nun zum Jubelgesang erlösender Freude angestiftet; Solgerd Isalv gestaltete die Worte des Psalm 23 meditativ mit jener knabenhaft engelsgleichen Stimme, die auch Bernstein für seine eigenen Aufnahmen vorgeschwebt hatte.
 
Der Bayerische Rundfunk sendet den Mitschnitt in BR-Klassik am 4.Dezember um 20.05 Uhr.

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