Die spannenden 20er-Jahre
Neuauflage der 1920er-Jahre im Nürnberger Museum Industriekultur
27.5.2021, 16:35 UhrSeit mehr als zwei Monaten steht sie fix und fertig aufgebaut - und war zum Dornröschenschlaf verdammt. Jetzt aber öffnen sich endlich die Pforten für "Tempo, Tempo": Mit den anderen städtischen Museen ist nun auch das Museum Industriekultur im ehemaligen Eisenwerk Tafel wieder zugänglich. Und kann eine Sonderschau präsentieren, die ein breites Publikum anspricht. Warum? Weil sie veranschaulicht, wo vieles herkommt, was für in unserem heutigen Alltag selbstverständlich ist.
Fön und Grammophon
Zumindest in bürgerlichen Haushalten sorgten in den 1920er-Jahren vor allem Elektrogeräte für manche Erleichterung: vom Herd über die Waschmaschine und die Staubsauger bis zum Haartrockner. Dazu kamen Telefon und Grammophon - und mit Jazz und neuen Tänzen prägten flotte Rhythmen auch Unterhaltung und Freizeit. Zuvor freilich galt es, die harte Not der unmittelbaren Nachkriegszeit bis hin zur Hyperinflation 1923 zu überstehen, ehe ein wirtschaftlicher Aufschwung einsetzte.
Die Ausstellung ist ein Gastspiel des Hauses der Bayerischen Geschichte: Sie war im vergangenen Jahr als Landesausstellung für das Museum der Bayerischen Geschichte entstanden, war aber nur kurze Zeit in Regensburg zu sehen. Im Frühjahr musste sie dort weichen; weil es aber zu schade gewesen wäre, die Objekte einzupacken und die Inszenierung mit Hörstationen und bewegten Bildern ins Archiv zu verbannen, bot sich eine Neuauflage in Nürnberg an. Übrigens stammen nicht wenige Leihgaben aus Sammlungen der Region, etwa aus dem Rundfunkmuseum Fürth oder dem Kameramuseum Plech.
Stimmige Auswahl
Der große Ausstellungssaal des Nürnberger Museums Industriekultur bot gerade genug Platz, von wenigen Großobjekten abgesehen. Es ist hier die vorerst letzte größere Sonderschau vor der anstehenden Generalsanierung. Dabei haben die Kuratoren klug darauf verzichtet, die Besucher mit einer Überfülle von Schaustücken zu überrumpeln. Um Lebensgefühl, Umbrüche und Trends sinnfällig zu machen, setzen sie auf prägnante Beispiele aus Technik, Wirtschaft, Mode, Kunst und Kultur und spannen den Bogen natürlich bis hin zum heraufziehenden Unheil - dem Ende von Republik und Demokratie in der NS-Diktatur.
Die Übergänge zwischen den einzelnen Themenbereichen sind fließend. Besondere Akzente setzen exemplarisch vorgestellte Persönlichkeiten, vom Raketenpionier Max Valier über die Magd und Mystikerin Therese von Konnersreuth bis zur Tänzerin Josephine Baker, die den Zeitgenossen die Sinne verdrehte.
Dass gerade der Alltag Fahrt aufnahm, war den Zeitgenossen absolut bewusst, wie ein Reklametext für eine Faltencreme von 1929 erkennen lässt: "Schneller, schneller – heult es durch die Straßen, schrillt es durch die Fernsprecher, knattern die Schreibmaschinen, schneller, schneller jazzt und trommelt es durch die Nacht, stöhnen es die morgendlich überfüllten Straßenbahnen", heißt es da. Leistungssteigerung und Rekorde seien die Zeichen der Zeit.
Der Dichter Erich Kästner macht sich freilich noch einen anderen Reim darauf: „Die Zeit fährt Auto, doch kein Mensch kann lenken“, heißt es in einem Gedicht aus dem Jahr 1928, in dem er schlaglichtartig Rastlosigkeit und Unbeständigkeit als Probleme ausmacht. Der rasch zunehmende Kraftfahrzeugverkehr hatte offenbar auch eine wilde Seite, jedenfalls zwangen sprunghaft steigende Unfallzahlen dazu, alsbald mit den ersten Aufklärungsfilme über die tödlichen Gefahren im Straßenverkehr gegenzusteuern. Wie populär gerade aktuell die 1920er-Jahre sind, zeigt nicht zuletzt der Erfolg der TV-Serie "Berlin Babylon".
Auftakt für Passagierflüge
Schließlich der Luftverkehr: 1921 ging in München der erste Flughafen für nationale und internationale Postflüge und Passagierbeförderung auf dem Oberwiesenfeld in Betrieb. Noch 1931 hat jedoch der Nürnberg-Fürther Flughafen mehr Flugbewegungen als der Münchner, zehn Landeplätze gibt es in Bayern zu dieser Zeit. Auf die Spitze trieb es der Südtiroler Valier mit einer Probefahrt seines Raketenschlittens RAK BOB 1 im Februar 1929 auf dem Flugplatz Schleißheim. Bei einer weiteren Vorführung raste er mit fast 400 Stundenkilometern über den zugefrorenen Starnberger See.
Zur größten Selbstverständlichkeit ist schließlich die Erfindung der Nürnberger Gebrüder Rosenfelder geworden, das Tempo-Taschentuch. Mit ihrem 1929 patentierten, ersten Wegwerf-Taschentuch schrieben die Inhaber der Vereinigten Papierwerke ein Stück deutsche Markengeschichte. Und nicht nur nebenbei ist an ihrem Beispiel daran zu erinnern, welche kaum zu überschätzende Beiträge in allen gesellschaftlichen Bereichen jüdische Erfinder, Wissenschaftler und Unternehmer spielten.
Deutlich werden die schier übermächtigen Spannungen zwischen auf der einen Seite den konservativen Kräften, die aus Resignation, Unzufriedenheit und Wut über die "Schmach" von Versailles auf Rache sannen. Und auf der anderen den Kräften, die für Freizügigkeit, Lebenshunger und Weltoffenheit stehen. Verdichtet zeigt das die Inszenierung im Raum "Republik" nach einer Karikatur aus dem Satireblatt "Simplizissimus".
Zu sehen ist "Tempo, Tempo" voraussichtlich - und soweit nicht erneute Schließungen drohen - bis 10. Oktober. Anschließend soll sie noch ins Hutmuseum Lindenberg (Allgäu) weiterwandern. Im Museumskino wird der Film "Wartesaal" gezeigt, der sich gut als Einführung eignet.
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