Große Kampagne
„Scham muss Seite wechseln“: Nürnberger Vereine setzen Zeichen gegen geschlechtsspezifische Gewalt
07.03.2025, 15:25 Uhr
Jede dritte Frau in Deutschland erlebt mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexualisierte Gewalt. Eine repräsentative Umfrage von Plan International Deutschland ergab, dass fast zwei von drei Frauen in Deutschland sexuelle Belästigung erfahren haben, vor allem in Form von verbalen Übergriffen, unerwünschten Berührungen oder Nachstellungen. Trotz dieser Zahlen suchen viele Betroffene keine Hilfe – oft aus Scham oder Angst.
Eine gemeinsame Kampagne der Politbande und von acht feministischen Einrichtungen in Nürnberg beleuchtet, wie Scham als gesellschaftliches Unterdrückungsinstrument wirkt. Dazu wurde unter anderem eine Video-Serie für Social Media produziert, die in den Tagen vor dem Internationalen Frauentag am 8. März veröffentlicht wurde. Die Politbande ist ein Nürnberger Verein für soziokulturelle Freiräume, Partizipation und Nachhaltigkeit. Als Teil des Nürnberger Stadtrats setzt sich die Gruppe aktiv für feministische Politik ein.
"Die Scham muss die Seite wechseln."
Ausgangspunkt der Kampagne war das Statement der Französin Giséle Pelicot: "Die Scham muss die Seite wechseln." Pelicot ist selbst Überlebende schwerer sexueller Gewalt. Ihr damaliger Ehemann hatte sie fast zehn Jahre lang immer wieder betäubt, missbraucht und von Dutzenden Fremden vergewaltigen lassen. Pelicot macht auf ein zentrales Problem aufmerksam: Während Betroffene von Gewalt oft mit Scham zurückbleiben, erfahren Täter gesellschaftlichen Schutz.
Gewalt hat viele Formen: häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung, Diskriminierung am Arbeitsplatz, psychischer Missbrauch, Abwertung im Alltag. Doch anstatt die Täter zur Verantwortung zu ziehen, werden oft die Betroffenen hinterfragt: "Warum hast du dich nicht gewehrt?", "Warum hast du so lange geschwiegen?", "Warum warst du dort allein unterwegs?", "Warum hast du ihn nicht verlassen?" Derartige Fragen führen dazu, dass viele nie über das sprechen, was ihnen widerfahren ist. Die Scham lässt sie schweigen. Die Initiatorinnen und Initiatoren der Nürnberger Kampagne fordern ein Umdenken, bei dem sich nicht die Betroffenen schämen sollten, sondern die Täter.
"Das Schweigen ist kein Zufall", sagt Hannah Diemer von der Politbande. Die 30-jährige Nürnbergerin ist seit fünf Jahren bei der Politbande aktiv und dort Teil des 8.-März-Teams. "Scham wird gezielt genutzt, um Frauen und queere Menschen klein zuhalten. Wer sich schämt, klagt nicht an. Wer sich schämt, sucht keine Hilfe." Auf diese Weise würden nicht nur Täter geschützt, sondern auch ein System, das Gewalt verharmlost, ignoriert oder gar toleriert.
Über 4500 Beratungskontakte in Nürnberg
An der Kampagne beteiligt war unter anderem der Verein "frauenBeratung Nürnberg". Im Jahr 2024 nahmen 588 Personen die Beratungsstelle in Anspruch, was zu über 4500 Beratungskontakten führte. Beraten wurde vor allem zu häuslicher Gewalt, sexualisierter Gewalt, Stalking und psychischer Gewalt. In nahezu allen Fällen begegneten die Beratenden bei den Betroffenen zwei starken Emotionen. "Neben Angst bestimmen massive Schuldgefühle das Leben von Frauen nach einer Gewalterfahrung", erklärt eine Sprecherin der gemeinnützigen Organisation.
Eine Sprecherin der Organisation erklärt, dass Scham bei Betroffenen nach Gewalt häufig das Ergebnis verinnerlichter gesellschaftlicher Mythen und Vorurteile über Gewalt gegen Frauen sei. "Moralische Ansprüche an weibliches Verhalten und weibliche Sexualität spielen hier immer eine unrühmliche Rolle, aber es darf nicht sein, dass Betroffene so fühlen. Wir brauchen eine Gesellschaft, die Mythen und Vorurteile abschafft, Täter zu Verantwortung zieht und Betroffene stärkt."
"Unendlich schwer"
Der Verein "Wildwasser Nürnberg" ist eine feministische Fachberatungsstelle für Mädchen und Frauen gegen sexuellen Missbrauch. Betroffene, die vor ihrem 18. Lebensjahr sexualisierte Gewalt erfahren haben, werden unterstützt. Auch "Wildwasser Nürnberg" beteiligte sich an der Kampagne.
In Deutschland wurden 2024 über 17.000 Fälle von sexualisierter Gewalt an Kindern angezeigt. Die Dunkelziffer sei viel höher, sagt eine Sprecherin der Fachberatungsstelle. "Meist findet sexueller Missbrauch durch nahe Bezugspersonen oder Familienangehörige statt, dies anzuerkennen ist nach wie vor ein gesellschaftliches Tabu, deshalb müssen Betroffene fürchten, dass ihnen nicht geglaubt wird, all dies löst ein immenses Gefühl von Scham aus." Die Scham mache es "unendlich schwer", darüber zu sprechen.
Weitere Vereine beteiligt
Das Frauen und Mädchen Gesundheitszentrum Nürnberg ist seit 45 Jahren eine Beratungs- und Informationsstelle zu Frauengesundheit. Auch in diesem Bereich spiele Scham eine große Rolle, berichten zwei Sprecherinnen des Vereins. Sie schildern, dass zahlreichen Klientinnen sich nicht trauen würden, intime Beschwerden anzusprechen, aus Angst, nicht ernst genommen oder abgewertet zu werden. "Von klein auf lernen wir, dass unsere Körper ständig bewertet werden: zu dick, zu dünn, zu haarig, zu unrein, zu laut. Diese Abwertung hat weitreichende Folgen."
Beteiligt war auch der Verein "dick und dünn Nürnberg". Die Fachberatungsstelle bei Essstörungen plädiert für ein Ende der Scham über den eigenen Körper. Für eine Veränderung sei es notwendig, unter anderem wertfreie Kommunikation über Figur und Essen zu fördern, Akzeptanz für alle Körperformen zu schaffen und den Leidensdruck der Betroffenen ernst zu nehmen.
Außerdem beteiligt waren die eingetragenen Vereine Lilith und Kassandra. Lilith setzt sich für ein Ende der Scham bei Frauen ein, die Drogen konsumieren, und Kassandra informiert, berät und unterstützt Personen in der Sexarbeit. Auch das Frauenhaus Nürnberg nahm an der Kampagne teil und machte deutlich: "Personen, die Gewalt erfahren, müssen sich nicht schämen. Die Scham muss die Seite wechseln!"
Gewalt an Frauen geschieht meist im Verborgenen und hat viele Gesichter. Psychische, physische oder sexuelle Gewalt kann jede Frau betreffen. Stalking, Schläge oder Missbrauch sind oft nur ein Teil davon. Wenn auch Sie das Gefühl haben betroffen zu sein, können Sie die kostenlose Nummer des Hilfetelefons "Gewalt gegen Frauen" wählen. Unter der 08000/116016 haben Sie die Möglichkeit, rund um die Uhr anonym und vertraulich Kontakt zu Beraterinnen aufzunehmen. Die Beratung kann auch über einen Online-Chat oder per E-Mail erfolgen. Das Frauenhaus in Nürnberg erreichen Sie ebenfalls 24 Stunden am Tag unter der 0911/333915, das Frauenhaus in Fürth rund um die Uhr unter 0911/729008. Von Gewalt betroffene Männer können sich beim "Hilfetelefon Gewalt an Männern" unter der 0800/1239900 ebenfalls Unterstützung suchen.
Keine Kommentare
Um selbst einen Kommentar abgeben zu können, müssen Sie sich einloggen oder sich vorher registrieren.
0/1000 Zeichen