Ein Traum wurde wahr: Mit dem Velo quer durch die USA
18.9.2017, 17:16 UhrGerhard Wendler ist kein unbeschriebenes Blatt, was ausgedehnte Radreisen anbelangt. Nach der Pensionierung legt der begeisterte Radler für sich seine ganz persönliche Wunschliste fest: Er will unbedingt zum Inari-See in Finnland radeln (2014 realisiert), außerdem die britischen Inseln bereisen (2016 geschafft) und – last but not least – einmal per Velo quer durch die USA fahren. Nachdem ihn der Norden Amerikas bereits als Kind fasziniert hat, sein Sohn vor Jahren einige Zeit beruflich in Vancouver (Kanada) verbrachte und er über die amerikanische Adventure Cycling Association (ACA) auf den Northern Tier stößt (ein Fernradweg, der knapp südlich der amerikanisch-kanadischen Grenze von Anacortes ganz im Westen nach Bar Harbor im Osten führt), steht das Grundgerüst der Reise schnell.
Über den Atlantik
Der Startschuss für die Abenteuerreise auf zwei Rädern fällt nach intensiver Planung Ende April dieses Jahres. Bereits die Anreise ist außergewöhnlich. Nachdem ihn die Bahn nach Köln gebracht hat, geht es auf dem Drahtesel weiter nach Antwerpen, wo die Independent Voyager auf den Rother wartet. Da ihm der Radtransport per Flugzeug zu riskant ist, hat sich Wendler für ein riesiges Frachtschiff als Transportmittel entschieden. Mit unzähligen Containern und nur einem weiteren Passagier an Bord geht es über Liverpool in 16 Tagen quer über den Atlantik nach Philadelphia. Nach einem kurzen Kulturprogramm in Philly fährt der 64-Jährige "zurück" an den Atlantik, um wirklich an der Küste starten zu können.
Am 11. Mai radelt Wendler dann endgültig los Richtung Westen, der Pazifikküste entgegen. Zum ersten Teilziel, dem Erie-See, fährt er noch auf einer eigenen Route. Die ersten Tage haben es gleich in sich: Erst ist es nass und windig, dann wieder heiß. Zudem erweist sich Pennsylvania als "ausgesprochen hügelig", mit 35 Kilo Gepäck auf dem Rad sind die Steigungen im teils zweistelligen Bereich nur schiebend zu meistern. Vom Erie-See aus folgt der Rother schließlich dem Northern Tier, baut aber immer wieder Abstecher ein, an den Lake Michigan oder nach St. Paul, wo er bei der somalisch-amerikanischen Familie einer ehemaligen Kollegin übernachtet. Gefahren wird meist auf kleinen Nebenstraßen und soweit vorhanden Radwegen, übernachtet entweder in Motels, Hotels, privat vermieteten Zimmern oder im Zelt.
"Emotional sehr wichtig"
Am 19. Juni kommt der Radler nach 4066 Kilometern, rund der Hälfte seiner Reise, am Mississippi an ("Emotional sehr wichtig", hält er im Reisetagebuch fest). Das nächste Zwischenziel, das er nun 2000 Kilometer weiter anpeilt, ist die Great Divide, die große amerikanische Wasserscheide zwischen Atlantik und Pazifik. Von Minnesota radelt er weiter durch North Dakota bis nach Montana ("Als Kind habe ich beim Cowboyspielen immer von Montana geträumt"), wo nach den Appalachen zu Beginn wieder die ersten echten Berge warten.
Langsam, aber stetig gewinnt er Höhe, und nicht ganz einen Monat nach der Mississippi-Überquerung rollt er auf dem Marias Pass (1590 Meter) über die Hauptwasserscheide. Nach einem Abstecher nach Missoula, wo er dem ACA-Hauptsitz einen Besuch abstattet, geht es auf dem Lewis & Clark Trail (benannt nach den Leitern einer Erkundungsexpedition zwischen 1804 und 1806) weiter durch die Rocky Mountains, die ihrem Namen alle Ehre machen. In seinem Reisetagebuch klingt das so: "Am Anfang zwei Stunden bergauf, 20 Kilometer. Dann 40 Kilometer ohne Schatten und Rastmöglichkeit."
Aber schon einen Tag später kann Gerhard Wendler notieren: "Heute früh die schönste Bergabfahrt meines Lebens: 13 Kilometer mit 700 Höhenmetern!" Noch heute ist er von diesem Streckenabschnitt begeistert. "Es war eine Wucht! Tolle Serpentinen und eine fantastische Aussicht." Die letzten Juli-Tage stellen ihn auf eine harte Probe. Mehrere Reifenpannen kosten Zeit und vor allem Nerven, bis die Ursache – ein Stück Draht im Mantel – gefunden ist. Zudem spielt die Natur verrückt: Die Region erlebt einen der heißesten Julis seit Jahren, die Temperaturen steigen bis auf 37 Grad im Schatten. Andernorts muss Wendler mit "extremstem Gegenwind" kämpfen, der ihn immer wieder beinahe von der Straße oder Brücke weht.
Er kämpft sich weiter Richtung Westen und erreicht Portland, das als Radlerhochburg gilt. "Das größte war der Radweg von Vancouver in Washington nach Portland in Oregon: Er führt über die Interstate (Autobahn) als Mittelstreifen! Rechts vier Spuren, eine Betonwand, Radweg, Betonwand, links vier Spuren."
Zwei Tage später hat er den nächsten wichtigen Fixpunkt erreicht: "End of the Trail" heißt es in Seaside auf einem Denkmal zu Ehren der Pioniere Meriwether Lewis und William Clark. Hier an der Uferpromenade von Seaside/Oregon erfüllt sich für Gerhard Wendler endlich der Traum, "den offenen Pazifik zu sehen. Das war der Knüller, die Küste erreicht zu haben", erzählt er. "Ein unbeschreibliches Gefühl!"
Erlösende Nachricht
Am Ziel ist er damit aber noch nicht. Knapp 700 Kilometer trennen ihn von Vancouver in Kanada. Nach einem kleinen Motivationsloch radelt er weiter, besucht Seattle und erreicht am 12. August Blaine, eine kleine Stadt direkt an der US-kanadischen Grenze. Da Wendler schneller war als geplant und sein Smartphone in Kanada nicht funktioniert, muss er von hier aus per Telefon und E-Mail über Deutschland seinen Rücktransport organisieren. Als aus der Heimat die erlösende Nachricht kommt, dass die Umbuchung des Flugs geklappt hat, geht alles ganz schnell.
Nach Vancouver ist es ein Katzensprung, am Flughafen klappt auch alles, der Flug verläuft ruhig. Am 17. August ist das Abenteuer "Crossing America" Geschichte und Gerhard Wendler wieder zu Hause in Roth.
"Land der Widersprüche"
Was bleibt von einer rund 8670 Kilometer langen Radreise, bei der zwölf Bundesstaaten und vier Zeitzonen durchquert wurden? Die Erkenntnis, dass die USA "ein Land der Widersprüche" sind, das "Enge und Herzlichkeit" vereint. Dass der eine oder andere ganz selbstverständlich eine Pistole in der Öffentlichkeit trägt, mache schon nachdenklich, meint der 64-Jährige. Gleichzeitig habe er unzählige "unheimlich offene Menschen" getroffen. Nicht nur einmal sei er spontan einfach so von seinen Gesprächspartnern nach Hause eingeladen worden.
Neben netten Plaudereien habe es auch oft intensive Gespräche gegeben. "I saw Peter Fechter dying." Dieser Satz und die anschließende Unterhaltung mit einem ehemaligen Soldaten, der 1962 in Berlin stationiert war und mit ansehen musste, wie der 18-jährige Berliner auf der Flucht in den Westen von DDR-Grenztruppen erschossen wurde, habe einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen.
Selbstverständlich sorgten auch die unterschiedlichen Landschaften, die er auf seiner Mammut-Tour durchradelte, die teils extremen Wetterbedingungen und die immer wieder sehr dünne Besiedlung des Landes für bleibende Eindrücke. Und nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit der Geschichte der durchfahrenen Regionen und der Besuch von Zielen wie der Mississippi-Quelle oder die Fahrt durch das Amish-Land werden unvergesslich bleiben.
Am heimischen Esstisch bringt es Gerhard Wendler auf den Punkt: "Es war ein gigantisches Erlebnis mit beeindruckenden Landschaften und unheimlich netten Menschen."
>>> Hier geht es zu seinem Reisetagebuch <<<
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