Nobel wohnen im Campervan

Im Fahrbericht: Mercedes-Benz Marco Polo

18.9.2021, 16:17 Uhr
Im Fahrbericht: Mercedes-Benz Marco Polo

© ule

Die Camping-Ära, so dachte die Autorin dieser Zeilen, habe sie längst hinter sich gelassen. Denn das, was man in belastbaren Jugendjahren klaglos als Teil des Abenteuers Urlaub hingenommen hat, verursacht in der Saturiertheit des fortgeschritteneren Alters leises Unbehagen: Regenfeuchte im Zelt, Sand im Schlafsack, Dosenravioli vom wackeligen Campingkocher - danke nein.

Auch alltagstauglich

Ein festes Dach über dem Kopf möchte schon sein, gern in Verbindung mit Rädern unter den Füßen. Wohnmobil also, das wäre vorstellbar. Aber nicht gleich die ganz große Lösung. Wir entscheiden uns dafür, mit einem Campervan ins Campingleben zurückzukehren. Der Charme und daraus resultierend der Erfolg von VW „Bus“ California, Mercedes Marco Polo, Ford Nugget & Co. liegt darin, dass man zwar in ihnen wohnen kann – andererseits aber auch durch den Alltag fahren. Denn Parkhäuser, Tiefgaragen und Waschanlagen stellen ebensowenig ein Problem dar wie enge Ortsdurchfahrten.

Den ersten Marco Polo hat Mercedes bereits 1984 auf den Markt gebracht, damals basierend auf dem „Bremer Transporter“ 209 D. Noch heute werden die Vans mit Stern bei Westfalia zum Reisemobil umgebaut. Den Vertrieb übernimmt dann aber wieder Mercedes selbst. In seiner jetzigen Form gibt es den Marco Polo seit 2014, die Basis stellt die V-Klasse, an der vor zwei Jahren eine ausführliche Modellpflege vorgenommen worden ist.

Im Fahrbericht: Mercedes-Benz Marco Polo

© Daimler

Das haben wir gelernt, bevor wir unser 5,14 Meter langes und 1,98 Meter hohes Tiny House auf Rädern besichtigen. Über die elektrisch öffnende Schiebetür betreten wir den Wohnbereich und sind durchaus beeindruckt. Lederfauteuils vorn, ein zweisitziges, auf Schienen verschiebbares und zum Bett umfunktionierbares Ledersofa hinten, Bodenbelag in heller Yacht-Optik, eine edle Küchenzeile, die aus 40-l-Kühlbox, zweiflammigem Gasherd sowie einer kleinen Edelstahlspüle besteht und von einer hochklappbaren Oberfläche aus dunklem Glas bedeckt wird. So nobel sei ihre Studentenbude nicht eingerichtet, konstatiert die Tochter neidisch, während sie uns über die Schultern linst.

Schlau verstaut

Was wir an Kleidung und Küchenutensilien mitnehmen, wählen wir mit Bedacht, denn der Stauraum ist bauartbedingt begrenzt, andererseits aber sehr schlau organisiert: Unter anderem gibt es zwei große Schubfächer unter der Rücksitzbank, einen von zwei Seiten zugänglichen Wandschrank mit Innenspiegel neben der Kücheneinheit, unter derselben einen Schiebetürenschrank, des weiteren Schubläden und ein tiefes Schubfach. Noch ein Schränkchen findet sich im Heckbereich. Weil es sich nur von außen wirklich bequem erreichen lässt, beschließen wir, dort nur das unterzubringen, auf das wir nicht permanent zugreifen müssen.

Spät am Abend starten wir in Richtung Südtirol. Unser Marco Polo 300 d ist mit dem stärksten Motor aus dem Portfolio ausgestattet – ein Zweiliter-Diesel mit 174 kW/237 PS, der mit einer fein und präzise schaltenden 9-Gang-Automatik kooperiert. Wüssten wir es nicht besser, so hätten wir den Vier- glatt für einen Sechszylinder gehalten, so leise, laufruhig und kultiviert geht er zu Werke. An Kraft mangelt es schon der PS-Reserven wegen nicht, vor allem aber sorgt das üppige Drehmoment von 500 Newtonmetern (per Overtorque stehen weitere 30 Nm bereit) dafür, dass der 2,5-Tonner ordentlich voranschiebt. Entspannter kann eine Langstreckentour nicht verlaufen. Und damit auch das gesagt ist: In 8,6 Sekunden marschiert der Marco Polo 300 d von 0 auf 100 km/h, als Spitze erreicht er 215 km/h.

Im Fahrbericht: Mercedes-Benz Marco Polo

© Daimler

Kultivierter Top-Diesel

Hoch thronen wir über dem Verkehrsgeschehen, die feinen Oberflächen-Materialien des Armaturenträgers im Blick, Mercedes halt. Als Kommandozentrale dient ein großer Touchscreen, in dem das MBUX-Infotainment wohnt. Die Sprachsteuerung merkt auf den Zuruf „Hey, Mercedes“ auf und funktioniert vorzüglich, nur dass die Damenstimme uns vertraulich duzt, ist uns irgendwie nicht so ganz passend erschienen.

Dass gegen halb zwei Uhr morgens Müdigkeit an den Augenlidern zerrt, ist kein Problem, denn das Schlafzimmer ist ja nur eine Körperdrehung vom Cockpit entfernt. Übernachtung auf dem Autobahnparkplatz bei Innsbruck also, Tanken am Morgen als erste Amtshandlung. Die schnelle Autobahnfahrt hat uns 9,8 l/100 km gekostet, später werden wir feststellen, dass gemütliche Landstraßentouren mit 6,7 l abgehen und insgesamt einen Schnitt von 8,7 l/100 km festhalten.

Wendig wie ein Pkw

Gut ausgeschlafen streben wir erst den Brenner und dann über Serpentinen den Jaufenpass hinauf. So wunderbar wendig wie ein Pkw fühlt sich der Marco Polo hier an, die adaptive Luftfederung Airmatic filtert Frostaufbrüche und Asphalt sensibel und kundig heraus.

Im Fahrbericht: Mercedes-Benz Marco Polo

© Daimler

Auf dem Campingplatz im Passeiertal weist man uns einen lauschigen Stellplatz zwischen Obstspalieren zu, im Hintergrund rauscht die Passer. Blick zum Himmel, es scheint trocken zu bleiben, also: Runter mit den Bikes vom Heckträger, der leider den Nachteil hat, eines der schönsten Details am Marco Polo zu versperren - die separat zu öffnende Heckscheibe nämlich. Lösbar ist das Problem mit einem Kupplungsträger.

Wir lassen den Marco Polo zurück und radeln rauf auf den Berg, wo uns heftiger Regen buchstäblich kalt erwischt. Triefnass kehren wir zurück und matschen zum Zwecke einer heißen Dusche zu den Sanitäranlagen – eine Nasszelle gibt es im Marco Polo nicht, auch keine Toilette, dafür reicht der Platz schlichtweg nicht. Wir beschließen, der Standheizung die Chance zu geben, unsere Klamotten sowie die feuchten Handtücher zu trocknen und währenddessen auswärts, sprich im Restaurant, essen zu gehen.

Zum Schlafen in den ersten Stock

Knödel-Tris und Südtiroler Lagrein haben die Bettschwere befördert, wir schieben die Rollos im Marco Polo herunter und befestigen die Verdunkelungsplane für Front- und vordere Seitenscheiben. Das Schlafgemach liegt im ersten Stock, unter dem elektrisch hochfahrenden Aufstelldach. Er sei gespannt, wie wir da hinaufkämen, hatte uns der Nachwuchs in kollektiver Häme mitgegeben. Aber: Der Aufstieg geht problemlos vonstatten, die Vordersitze dienen als Kletterhilfe. Und auch der Schlafkomfort im Oberstübchen ist viel besser als erwartet: Die Matratze des zwei Meter langen und 1,10 Meter breiten Betts liegt auf bequemen Tellerfedern auf, spätabendlichem Schmökern dienen LED-Leselichter, ein USB-Anschluss lädt über Nacht das Smartphone, das währenddessen griffbereit bleibt.

Im Fahrbericht: Mercedes-Benz Marco Polo

© Daimler

Mit Schaudern denken wir noch an die klamme Zeltfeuchte von früher, bevor uns das Lied des Landregens in den Schlaf pladdert. Am Morgen scheint die Südtiroler Sonne durchs Panoramadach. Die perfekt ausgestatteten Camping- und Caravan-Profis um uns herum stellen Mini-Wäschespinnen auf, wir als Anfänger spannen eine Wäscheleine von Apfelbaum zu Apfelbaum, um die Restnässe aus Handtüchern und Jacken zu vertreiben. Dann holen wir das Campingmobiliar aus dem Heckabteil, stellen Tisch und Stühle in die Sonne, kochen auf dem Gasherd Kaffee und brutzeln Eier mit Speck.

Während des Frühstücks kontrollieren wir die Campingfunktionen: Via App lassen sich Frisch- und Abwasserfüllstand abfragen, aber auch das Ausstelldach bedienen, die Temperatur der Kühlbox regulieren, das Ambientelicht einstellen oder die Standheizung ansteuern. Genauso gut funktioniert das freilich über den Touchscreen und ein Untermenü des MBUX-Infotainments, das „Advanced Control“ (MBAC) heißt. Die schöne neue Campingwelt hat freilich ihren Preis – als Grundpreis für den Marco Polo Edition 300 d gibt Mercedes gut 71.000 Euro an, mit allen Extras kommt unser luxuriöser Testwagen auf knapp 90.000 Euro. Einstiegsmodell der Baureihe ist der Marco Polo Activity 200 d mit 100 kW/136 PS starkem Diesel, er kommt auf 54.109 Euro.

Im Fahrbericht: Mercedes-Benz Marco Polo

© ule

Der Bike-Ausflug gerät diesmal entschieden sonniger, auf der Hirzerhütte lernen wir Hilde und Rudi kennen, die von ihrem schicken Hotel schwärmen und zweifelnde Blicke tauschen, als wir von unserem fahrbaren Domizil erzählen. Dort kochen wir am Abend, was angesichts der limitierten Abstellflächen etwas Organisationstalent erfordert, auch die gebückte Körperhaltung hinab zum verhältnismäßig niedrigen Küchenblock ist zunächst gewöhnungsbedürftig, und dass die hochgeklappte Abdeckung verhindert, dass der Küchendunst komplett durchs Fenster abziehen kann, fanden wir nicht ideal. Letztlich aber setzen wir uns zufrieden an den ausklappbaren und verschiebbaren Tisch, um den sich dank der drehbaren Vordersitze bis zu vier Personen gruppieren können.

Rücksitzbank als Doppelbett

Vier Personen finden auch eine Schlafgelegenheit im Marco Polo. Denn wie erwähnt, kann die Rücksitzbank zum Bett umgebaut werden, was allerdings ein etwas umständliches Prozedere ist. Zunächst gilt es die Sitzfläche nach vorn zu ziehen, die Lehnen legen sich elektrisch flach, anschließend wird die dafür vorgesehene Auflage über die Liegefläche gebreitet. Allerdings: So bequem wie im Dachgeschoss ruht man im Parterre nicht.

Am nächsten Tag kündigt die Wetter-App Regen an. Tagelangen Regen! Nein, noch einmal nass werden wollen wir nicht. Wo wär’s denn schöner? Aha, ergibt der Blick aufs Smartphone, nördlich des Hauptalpenkamms, im Zillertal zum Beispiel. Koffer packen braucht man im Campervan nicht, wir sind sofort reisefertig. Kurz sehen wir noch Hilde und Rudi vor deren Hotel. Während sie für die kommenden Regentage planen, verabschieden wir uns - und fahren mit unserer flexiblen Ferienwohnung der Sonne entgegen.

Die Daten des Marco Polo Edition 300 d

Motor Diesel, Hubraum 1950 ccm, Zylinder 4, Leistung 174 kW/237 PS bei 4200/min, max. Drehmoment 500 Nm bei 1600 - 4200/min, Spitze 215 km/h, Beschleunigung 0 auf 100 km/h in 8,6 sec, Normverbrauch innerorts 6,7 – 6,8, außerorts 5,7, kombiniert 6,1 l D pro 100 km, Testverbrauch 8,7 l D/100 km, CO2-Emission 161 - 162 g/km, Schadstoffklasse Euro 6d M/N1 GR. II, Energie-Effizienzklasse A+, Länge 5,14 m, Breite 1,93 m, Höhe 1,98 m, Kraftstoff-Tank 70 l, AdBlue-Tank 24 l, Leergewicht 2487 kg, zulässiges Gesamtgewicht 3100 - 3200 kg, Zuladung 703 kg, Anhängelast 2500 kg (gebremst), 750 kg (ungebremst). Sitzplätze 4, Schlafplätze 4, Frischwassertank 38 l, Abwassertank 38 l. 9-G-Automatik, Heckantrieb. Versicherungs-Typklassen 20 (KH), 24 (VK), 23 (TK). Preis ab 71.313 Euro.

Keine Kommentare