"Sunset": Schlafwandlerin in einer Welt am Abgrund

13.6.2019, 08:00 Uhr

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Der Film nahm konsequent die Perspektive eines einzelnen Auschwitz-Häftlings ein und ließ die Bilder des Grauens oft im Unscharfen verschwimmen.

Ganz ähnlich verfährt Nemes nun in "Sunset". Mit den Augen seiner Hauptfigur, der jungen Hutmacherin Írisz Leiter (Juli Jakab), führt er uns am Vorabend des Ersten Weltkriegs durch das Budapest des Jahres 1913. Ihre Wahrnehmung wird zu der des Zuschauers. Atmosphärisch entwickelt "Sunset" dabei eine große Sogkraft. Man taucht unmittelbar ein in eine Welt des Aufruhrs, die noch vom Glanz der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie geprägt ist, aber faulig riecht und in der sich destruktive Kräfte Bahn brechen.

Suche nach dem Bruder

So fesselnd Nemes’ stilistisches Konzept auch hier wirkt, so nebulös bleibt die Geschichte, die er erzählt. Das angesehene Hutgeschäft, in dem sich Írisz um eine Stelle bewirbt, gehörte einst ihren Eltern, die bei einem Feuer umkamen, als sie zwei Jahre alt war. Als Waise in Wien aufgewachsen, ist sie in ihre Geburtsstadt zurückgekehrt. Der jetzige Geschäftsinhaber Oszkar Brill (Vlad Ivanov) weist Írisz ab, überhaupt scheint sie nicht willkommen zu sein. Die Leute raten ihr dringend, die Stadt wieder zu verlassen. Doch als Írisz von einem ihr bislang unbekannten Bruder erfährt, der in Budapest eine Gruppe von Anarchisten anführen soll und angeblich einen Grafen getötet hat, beschließt sie, zu bleiben und ihn zu finden.

Dabei gerät sie in einen Strudel krimineller Machenschaften, sexueller Obsessionen und revolutionärer Umsturzgelüste. Zudem scheinen Brill und die kaiserliche Familie in einen Mädchenhändlerring verstrickt zu sein. Bald sucht Írisz nicht nur nach ihrem Bruder, sondern auch nach einem der verschwundenen Mädchen, während die Welt um sie herum in Chaos und Gewalt versinkt.

Nemes entwirft ein ganzes Labyrinth von Handlungssträngen, die angerissen und nie aufgelöst werden. Juli Jakab als Írisz bewegt sich darin wie eine Schlafwandlerin – mit hellwachem Blick, aber ohne jede emotionale Regung in ihrem schönen Gesicht. Über sie, über das Schicksal ihrer Eltern, die möglicherweise Opfer eine Pogroms wurden, erfährt man nichts weiter. Auch ihr Bruder ist eher Gespinst als reale Figur.

Doch auch wenn die zweieinhalb Stunden Filmlänge zum Ende hin ziemlich strapaziös werden, ist "Sunset" durch seine suggestive Erzählweise, die ganz eigene Ästhetik und eine Kamera, die Pracht und Chaos gleichermaßen virtuos einfängt, von einiger Faszinationskraft. Ein Film, der vor allem als Metapher auf eine Welt am Abgrund zu lesen ist. (H/F/142 Min.)

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