10 Jahre nach dem GAU

Olympia in Fukushima: Noch längst nicht alle Wunden sind geheilt

23.7.2021, 13:12 Uhr
Softball ist eine Variante von Baseball: Im Stadion von Fukushima gewannen die Japanerinnen (rote Trikots) zum Olympia-Auftakt 8:1 gegen Australien.  

© Jae C. Hong/AP/dpa Softball ist eine Variante von Baseball: Im Stadion von Fukushima gewannen die Japanerinnen (rote Trikots) zum Olympia-Auftakt 8:1 gegen Australien.  

Am Mittwochvormittag steht Eri Yamada vor einer Traube von Journalisten, die vor Aufregung plötzlich die Abstandsregeln vergessen haben. "Das war ein ausgezeichneter Start", sagt die Kapitänin der japanischen Softballfrauen über das 8:1 ihres Teams gegen Australien.

Schon zwei Tage vor der Eröffnungsfeier von "Tokyo 2020", wie sich die Olympischen Spiele auch nach der pandemiebedingten Verschiebung offiziell nennen, liefen abseits der Hauptstadt die ersten Wettbewerbe an. Softball in Fukushima, Fußball in Sendai und in Sapporo. Die japanische Öffentlichkeit schaute an diesem Mittwoch vor allem nach Fukushima. Vor der Pandemie stand "Tokyo 2020" für ein großes Versprechen. Insbesondere dem Nordosten des Landes, wo auch Fukushima liegt, wurde gesagt: Die Spiele von Tokio seien die "fukkou gorin" – die Wiederaufbauspiele.

Im März 2011 erlebte Japan die schlimmste Katastrophe seiner jüngeren Geschichte. Nach einem Erdbeben der Stärke 9,0 brach ein fast 20 Meter hoher Tsunami über die Nordostküste des Landes herein. Ganze Dörfer wurden vom Ozean geschluckt oder vom Erdbeben erschüttert.

Hunderttausende verloren ihr Zuhause, etwa 20000 Menschen starben. Als wäre das nicht genug, havarierte an der Küste noch das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi. Nach den Kernschmelzen in drei Reaktorblöcken wurde im Umkreis von 30 Kilometern evakuiert. So mussten auch jene Einwohner landeinwärts fliehen, deren Häuser Tsunami oder Erdbeben nicht zerstört hatten. Die radioaktive Strahlung war zu hoch.

Ein Affront

Im Azuma-Stadion, wo am Mittwoch auf seltsam zurückhaltende Weise der Olympiaauftakt gefeiert wurde, ist von den Schäden der Katastrophe nichts zu sehen. Fukushima-Stadt liegt 60 Kilometer landeinwärts, evakuiert wurde hier nie. Kritiker halten den Slogan "Wiederaufbauspiele" daher für einen Affront gegenüber den Menschen in den wirklich betroffenen Gebieten.

Noch längst wurden nicht alle Gebäude in der Region Fukushima wieder aufgebaut. Einige Orte bleiben evakuiert.  

Noch längst wurden nicht alle Gebäude in der Region Fukushima wieder aufgebaut. Einige Orte bleiben evakuiert.   © Felix Lill

Einen Tag vor dem Olympiaauftakt an der Küste von Fukushima, in unmittelbarer Nähe zur Atomruine, fährt Tatsuhiro Yamane mit seinem Auto durch das Dorf Futaba, wo auch die Atomruine steht. "Hier war die alte shotengai, die Einkaufsmeile", sagt der 36-Jährige und deutet die verlassene Straße entlang. Er passiert ein zerfallenes Ziegeldach, einst das Prachtstück eines buddhistischen Tempels. Rechts ein alter Fleischerladen. Die Fenster zersprungen, drinnen ist alles verwüstet, die Decke eingestürzt. Daneben ein verlassenes Uhrengeschäft, in dem streunende Tiere hausen.

Tatsuhiro Yamane kam im Sommer 2013 als Aufbauhelfer nach Futaba, gut zwei Jahre nach der Katastrophe. Der junge Mann aus Tokio heiratete eine evakuierte Frau aus Futaba, heute haben sie zwei Kinder. Seit Anfang des Jahres ist Yamane auch Gemeinderatsmitglied, muss diesen Job aber wegen der bestehenden Evakuierungsanordnung von Iwaki aus ausüben, eine Großstadt etwa eine Stunde Fahrt entfernt.

Tagsüber, nur dann ist es erlaubt, Futaba zu betreten, bietet er Walking Touren für Besucher an – in der Hoffnung, auf die verzweifelte Situation aufmerksam zu machen. Er steigt ins Auto und steuert die Küste an. "Sobald es wieder möglich ist, wollen wir mit der Familie nach Futaba ziehen." Gut 6000 Einwohner lebten einst in diesem Ort, den man heute eine Geisterstadt nennt.

In den Wochen, als Yamane zum ersten Mal von Tokio nach Futaba fuhr, um sich nützlich zu machen, wurde am anderen Ende der Welt Großes verkündet. "Einige von Ihnen machen sich womöglich Sorgen über Fukushima", sagte der damalige Premierminister Shinzo Abe mit beruhigender Gestik hinter einem Rednerpult. "Aber lassen Sie mich Ihnen versichern: Die Situation ist unter Kontrolle."

Diese Worte, gesprochen am 7. September 2013 auf der Generalversammlung des Internationalen Olympischen Komitees in Buenos Aires, dürften entscheidend dazu beigetragen haben, dass Tokio an jenem Abend das Austragungsrecht für die Sommerspiele 2020 erhielt. Mit seinem bestimmten Auftreten machte Abe deutlich: Tokio, die Metropole mit der weltweit stärksten Wirtschaftskraft, sei der zuverlässigste Austragungsort überhaupt. Und sollte Olympia nach Japan kommen, würden auch die zerstörten Gebiete im Nordosten profitieren.

Mit dem Austragungsrecht in der Tasche prägte die japanische Delegation rasch das Motto "fukkou gorin" – Spiele des Wiederaufbaus. Tatsächlich ist seit der Katastrophe einiges passiert. Regierungsvertreter haben es zuletzt immer wieder betont: Mehr als 90 Prozent der im Frühjahr 2011 zerstörten Gebäude wurden wieder aufgebaut. Die Wirtschaftskraft der Region hat in etwa ihr Vorkrisenniveau erreicht, auch wenn sich die Umsätze über die letzten Jahre nicht zuletzt durch die Wiederaufbauaktivität erklärt haben. Dem Ausland und dem Rest von Japan signalisiert man, dass Lebensmittel wie Reis, Pfirsich und Fisch, die von hier aus in den Verkauf gehen, sicher seien. Alles werde auf Radioaktivität geprüft. Zudem haben in den meisten der geräumten Orte Rücksiedlungen begonnen. Offiziell gelten noch rund 40000 Personen als evakuiert.

Es sind Zahlen, die man an der Küste Fukushimas kennt. Denn sie täuschen auch über die Realität hinweg. "Das mit den Wiederaufbauspielen war doch vor allem PR", sagt Takanori Asami und wischt sich bitter lächelnd den Schweiß von der Stirn. Nach der Mittagspause, in der heute nur wenige Leute zum Essen gekommen sind, putzt er die stählerne Arbeitsplatte seiner Küche. Der Foodcourt, der im letzten Jahr an der Küste von Futaba eingerichtet wurde, als nebenan ein Erinnerungsort für die Katastrophe von 2011 eröffnete, ist eines der Wahrzeichen des bisherigen Wiederaufbaus. Aber eben nicht nur das. "Man muss ja nur mal da drüben in die Ausstellung gehen und einen Spaziergang durch Futaba machen", sagt der 45-Jährige. "Dann weiß man Bescheid."

Asami kommt aus dem Nachbarort Namie, der nach der Katastrophe ebenfalls evakuiert werden musste. An einigen Stellen liegt die Radioaktivität unterhalb von 0,23 Mikrosievert pro Stunde. Dieser Richtwert galt vor der Atomkatastrophe. Vielerorts sind die Messwerte aber deutlich höher. Dass trotzdem wieder Menschen in Namie leben, liegt daran, dass der einstige Schwellenwert für empfohlene Strahlenbelastung auf das 20-fache angehoben wurde. Nur so konnte die Regierung 2017 Rücksiedlungen anordnen.

"Das hier passt nicht zusammen"

Doch die Angst zog mit in den Ort ein. "Du kannst es nicht riechen, schmecken oder fühlen. Es ist einfach da. Und dann ist da plötzlich ein Hotspot", sagt der 45-Jährige. "Das hier ist unsere Heimat. Aber sie ist anders als die alte, an die wir uns erinnern." Er hält es für unangebracht, dass die Olympischen Spiele unter dem Banner des Wiederaufbaus stattfinden – von den Risiken der Pandemie ganz abgesehen. "Ich bin selbst Sportler gewesen. Hab' versucht, mich für die Spiele von Atlanta 1996 im Boxen zu qualifizieren. Aber das hier passt doch nicht zusammen."

Auch zu Beginn der "Wiederaufbauspiele" bleiben ganze Orte evakuiert, viele Menschen wollen nicht mehr zurück, gerade junge Familien, die anderswo Wurzeln geschlagen haben.

Tatsuhiro Yamane schaltet den Motor aus, als er ein Wohngebiet erreicht. Ein paar Bagger reißen hier alte Häuser ab. Der Lokalpolitiker deutet hinter verwachsene Hecken. "Hier lebte meine Frau mit ihrer Mutter, bis sie evakuiert werden mussten." Ein stattliches Haus mit zwei Stockwerken und einem Vorgarten aus Kies. Als er die Glastür zum Wohnzimmer aufschiebt, riecht es muffig. Auch hier ist die Decke eingestürzt, alte Kleider liegen auf dem Boden, ein Kalender dokumentiert das Jahr 2011.

Nie wieder zurück

"An den Tagen nach der Katastrophe hatten sie zwei Stunden Zeit, um das Wichtigste mitzunehmen." Bis heute überlegt Yamane, ob sie das Haus abreißen lassen, da sie hier, wo die Strahlung den Grenzwert deutlich überschreitet, ohnehin nie wieder einziehen werden. Aber so ein Schritt fällt schwer, und ein neues Haus zu bauen ist noch Zukunftsmusik.

Selbst am einige Kilometer landeinwärts gelegenen Bahnhof von Futaba, wo seit 2020 wieder Züge halten, misst der fest installierte Geigerzähler 0,25 Mikrosievert die Stunde. In der Nähe der Mehrzweckhalle, nicht weit von der heute streng abgeriegelten Atomruine, waren es zuletzt 2,88 Mikrosievert. Dennoch hofft eine kleine Minderheit auf eine Rückkehr schon im nächsten Jahr. Eine Umfrage unter den Ex-Bewohnern von Futaba hat ergeben, dass nur noch zehn Prozent zurückkommen wollen.

Haben die Olympischen Spiele der Region geholfen? Tatsuhiro Yamane seufzt. "Hier spürt man nichts davon." All das Geld, das in die Spiele investiert wurde, sei kaum bis hierher gelangt. "Die Stimmen der Menschen hier wurden wenig gehört." So zweifelt Tatsuhiro Yamane, der vor dem Studium intensiv Baseball spielte, ob er sich für die Olympischen Spiele erwärmen kann, obwohl sein geliebter Sport gleich in der Nähe zu sehen ist.

Koch Takanori Asami sagt am Nachmittag noch: "Ich hoffe, dass mit dem Ende der Spiele nicht auch gleich der Wiederaufbau für vollbracht erklärt wird." So weit sei man lange nicht. Vielleicht ist der vor Jahren noch so viel zitierte Slogan dieser Spiele auch deshalb am Mittwoch kaum erwähnt worden.

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