Erstarkter Antisemitismus

Junge Juden in Erlangen: "Eine Kippa würde ich auf dem Hugenottenplatz nicht tragen"

22.10.2021, 12:30 Uhr
In der Synagoge tragen manche jungen Männer in Erlangen Kippa, öffentlich aber würden sie es nicht machen: Kantor Yonatan Amrani (stehend) mit Samuel (vorne) sowie Victor und Salman (rechts). 

© Thomas Welker von Foto Welker, no credit In der Synagoge tragen manche jungen Männer in Erlangen Kippa, öffentlich aber würden sie es nicht machen: Kantor Yonatan Amrani (stehend) mit Samuel (vorne) sowie Victor und Salman (rechts). 

Das Gemeindeleben ist rege und lebendig, auch wenn die jüdische Gemeinschaft gerade mal etwas mehr als 100 Mitglieder umfasst und der Großteil schon weit über 60 Jahre alt ist. Ältere nehmen an diesem Freitagabend am Sabbat-Gottesdienst - natürlich coronakonform - in der Jüdischen Kultusgemeinde (JKG) Erlangen ebenso teil wie Jüngere, die gemeinsam mit Gebeten und Gesang den Ruhetag begrüßen.

In dem Raum, in dem die JKG in ihrem gemieteten Gebäude an der Rathsberger Straße die Synagoge eingerichtet hat, sitzen mehrere junge Männer und auch Frauen auf den Stühlen, Kantor und Vorbeter Yonatan Amrani gibt Ton und Takt für die Zeremonie an - und versucht ebenso wie die JKG-Vorsitzende, Ester Limburg-Klaus, die jungen Menschen möglichst gut ins Gemeindeleben einzubinden.

Einer ist Victor. Der Erlanger ist 30 und macht eine Ausbildung zum Erzieher. Er bezeichnet sich als Agnostiker, seinen jüdischen Glauben praktiziert er kaum oder nicht. Er macht aus seinem jüdischem Glauben zwar kein Geheimnis, erzählt es aber auch nicht jedem sofort.

Viele reagieren erstaunt

Wenn Victor, der in Erlangen geboren und aufgewachsen ist, dann über sein Jüdischsein spricht, reagieren die meisten erstaunt. "Wenn man nicht gerade will, dass alle Augen auf einen schauen, spart man das aus", sagt er. Auf Ablehnung sei er bislang sehr selten gestoßen. Klar könne es mal zu, wie er sagt, "Zerwürfnissen" deshalb kommen. "Man entwickelt aber ein Gespür, wo man es sagen kann, und wo nicht". Kippa und Davidstern trägt der junge Mann jedenfalls nicht: "Ich bin öffentlich nicht sichtbar". Zumindest nicht als Jude.

Der Vorbeter und Kantor Yonatan Amrani im Gebäude der Jüdischen Kultusgemeinde Erlangen. 

Der Vorbeter und Kantor Yonatan Amrani im Gebäude der Jüdischen Kultusgemeinde Erlangen.  © Thomas Welker von Foto Welker, no credit

Salman hingegen trägt die jüdische Kopfbedeckung immer, wenn er die Synagoge zum Beten oder Feiern betritt. Über den Hugenottenplatz würde er damit aber nicht laufen.

"Ich bräuchte die Aufmerksamkeit nicht", sagt er zurückhaltend - und meint mit "Aufmerksamkeit" wohl eher Aufsehen oder sogar Aggression. "Ich würde mich auch nicht sicher fühlen dabei, muss ich sagen, ehrlich", ergänzt er nach einer kurzen Pause. "Ich habe Erlangen eigentlich bisher als relativ tolerant erlebt", sagt er, "ich wüsste nicht, ob ich tatsächlich in Gefahr wäre, aber es ist nichts, was ich ausprobieren möchte und wo ich sagen würde, das ist es mir wert".

Auch Salman erzählt nur den engsten Freunden, dass er jüdischen Glaubens ist. "Wenn ich zurück an die Schule denke, hätte es bestimmt ein paar Leute gegeben, die dazu etwas Komisches gesagt hätten", sagt der Jura-Student. Er versteht sich als liberalen Juden, hält sich nicht an alle Vorschriften, aber versucht doch so oft wie möglich, in die Synagoge zu kommen.

Angriffe und Anschläge häufen sich

In seinem Alltag, erzählt er, spiele Jüdisch sein keine große Rolle. Klar, "wenn man Sachen in den Nachrichten hört, die vielleicht nicht so erfreulich sind oder auch hier, wenn man in der Synagoge ist, macht man sich vielleicht Gedanken darüber." Schließlich gewinnen Rechtspopulisten an Boden, zudem häufen sich gerade in der jüngsten Vergangenheit Angriffe und Anschläge auf Juden in Deutschland. Kippa-Tragen in der Öffentlichkeit wird mehr und mehr zum Sicherheitsrisiko. Im Oktober 2021 soll etwa der Musiker Gil Ofarim in einem Leipziger Hotel antisemitisch angefeindet worden sein.

"Das ist natürlich schockierend", sagt er zu dem vermutlichen Vorfall in der sächsischen Messestadt, "aber um ganz ehrlich zu sein, das ist keine Einzelheit und wenn man das tagtäglich in den Nachrichten hört, dann stumpft man da auch ein bisschen ab, was das angeht". Salmans Eltern sind eingewandert, er selbst ist in Erlangen geboren und aufgewachsen, Deutschland, das Land der Nazi-Täter zu verlassen, war für den jungen Mann bisher keine Option.

Doch als er vor ein paar Jahren in Israel war, erzählt Salman, hat er sich schon gedacht: "Da kann ich jetzt mit einer Davidsternkette herumlaufen, das könnte ich hier nicht." Antisemitismus ist eben auch 2021 - also in dem Jahr, das Deutschland zum "1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland"-Festjahr erklärt hat -, leider auch in Erlangen Realität; hier wird das Jüdische Zentrum von einem Sicherheitsdienst bewacht und beschützt.

Das einzige Mädchen in der Runde ist Rosa. Die 29-Jährige ist zum Teil in Erlangen aufgewachsen, ihre Eltern stammen ebenfalls aus den früheren Sowjetstaaten, Rosa besucht an den Feiertagen die Synagoge, sie hält Feste ein, doch als religiös im traditionellen Sinn sieht sie sich nicht. "Von mir wissen die wenigsten, dass ich Jüdin bin", sagt sie, "also höre ich selten Beleidigungen."

Aber ein dummer Witz oder Spruch komme dennoch mal vor, "aber nicht direkt auf mich bezogen". Einmal hatte sie Probleme mit einem, wie sie sagt, rassistisch veranlagten Kollegen, der ihr offen Hitler-Bilder und Hakenkreuze geschickt hat; inzwischen arbeitet der Mann nicht mehr in dem Betrieb, in dem Rosa als Elektrikerin tätig ist - doch die Episode ist Rosa noch gut im Gedächtnis.

Weshalb es Antisemitismus in Deutschland immer noch gibt und offene Anfeindungen sogar noch zunehmen, versteht die junge Frau nicht: "Man soll ja eigentlich aus dem lernen, was passiert ist und da frage ich mich schon, warum muss das jetzt noch sein? Die Juden sind genauso normale Menschen wie alle anderen auch, deshalb verstehe ich nicht, warum es immer noch Anschläge geben muss."

Unabhängig von Gottesdiensten aber machen die jungen Erwachsenen - wenn nicht gerade eine Pandemie herrscht - genau das, was andere 20-Jährige eben auch so machen: Grillen, Feiern, Wandern, Spielabende oder Reisen.

Bei solchen Unternehmungen ist Samuel oft dabei, auch in die Synagoge kommt der 17-Jährige, der größtenteils in Erlangen aufgewachsen ist, gern. "Bei den größten Feiertagen und Festen bin ich schon anwesend".

"Es fühlt sich gut an"

Das Jüdische spielt für den Schüler durchaus eine große Rolle: "ich mag es, Jüdisch zu sein", sagt er, "meine Oma ist jüdisch, meine Mutter auch ein bisschen". Das Jüdische sei bei ihm stets im Hinterkopf: "Ich weiß, dass es immer da ist und das fühlt sich eigentlich ganz gut an." Es gebe immer noch antisemitische Vorfälle, sagt er, doch in den USA, wo er vor zwei Jahren eine längere Zeit gelebt hat, sei das noch viel schlimmer. "Dort malen Menschen Hakenkreuze auf Tische und glauben, dass Adolf Hitler noch lebt". Das erste, was er als Deutscher gefragt worden ist, sei gewesen: "Bist Du Nazi?" Das sei heutzutage in Amerika nichts Besonderes.

"In Deutschland ist es die Vergangenheit", sagt Samuel, sie dürfe man nicht vergessen; vielmehr müsse man sie zur Aufklärung nutzen. "Leider, leider ist es immer noch Realität, dass es Vorfälle wie jetzt in Leipzig mit Gil Ofarim gibt, auch dass stark pigmentierte Menschen diskriminiert werden, wird es immer geben, damit muss man leider leben", meint der Heranwachsende, "obwohl das eigentlich gar nicht geht."

Er selbst hat sein Jüdischsein in der Schule eher geheim gehalten, jetzt, da er älter ist, hat er zumindest seinen engeren Freunden davon erzählt. "Wenn es zum Thema kommt, spreche ich es an, aber ich würde nicht direkt in die Konfrontation gehen". Wenn er in die Synagoge zum Gebet kommt, trägt er Kippa, aber durch Erlangen, sagt er, würde er nicht damit laufen, nicht unbedingt, weil er Angst vor Angriffen hat. Vielmehr sei er einfach nicht so aufgewachsen. "Ich habe die Kippe aus Respekt beim Gebet an", sagt er, "aber nicht so im Alltag".

Im Alltag, vor allem in seinem Studiums- und Berufsalltag in einer Klinik, erlebt indes Chaim als Jude sehr viel: negatives. Da der angehende Mediziner aus Nahost stammt, halten ihn Freunde, aber auch Kolleginnen und Kollegen in der Regel für einen Moslem und Araber - und lassen ihrem Antisemitismus dann ungeniert freien Lauf.

"Die Leute sind mir gegenüber viel offener, was ihren wahren Antisemitismus angeht und sagen dann richtig krasse Sachen", berichtet er, "das ist wirklich traurig". Dazu gehören geschmacklose üble Witze genauso wie Kritik an der israelischen Politik, die für Chaim ebenfalls, nur etwas verklausuliert, meist Ausdruck von Antizionismus und Antijudaismus ist.

Er selbst äußert sich in solchen Momenten kaum oder nicht. Es sei aber nicht Angst, die ihn davon abhält, sondern eher Frust. "Ich habe schon so oft zum Beispiel beim Thema Israel-Kritik mitdiskutiert und festgestellt, dass sich bei mindestens 80 Prozent der Menschen hier hinter der Kritik eine antizionistische Haltung gegen Israel verbirgt."

Viele beziehen Partei für Palästinenser

Auch Kollegen auf seiner Station würden sich immer sofort auf die Seite der Palästinenser stellen und die Schuld auf Israel schieben. "Der Antisemitismus ist noch aktiv", sagt Chaim. Einmal hat ein Kollege zu ihm sogar gesagt, die Juden seien am Holocaust selbst schuld gewesen, weil sie sich zu wenig angepasst hätten. "Dann habe ich widersprochen und betont, dass die meisten Juden in den 1930 Jahren in Deutschland assimiliert waren und dennoch in den Konzentrationslagern gelandet sind."

Dieser latente und offene Antisemitismus schockiert Chaim, damit hätte er nicht gerechnet, als er zum Studium nach Deutschland gekommen ist. Und noch weniger hat er eine solche Haltung bei seinen Klinik-Kollegen und Professoren erwartet: "Das sind alles Akademiker - und sie sind so judenfeindlich eingestellt."

Wichtiges zur Jüdischen Kultusgemeinde Erlangen

Die Jüdische Kultusgemeinde (JKG) in Erlangen hat gut 100 Mitglieder, darunter sind Russen ebenso wie Israelis und Deutsche. Auch zum Judentum Konvertierte gehören zur Gemeinde. In dem Gebäude in der Rathsberger Straße sind unter anderem eine Synagoge und eine Bibliothek untergebracht. Zudem bietet die JKG Erlangen nach Angaben des Zentralrats der Juden in Deutschland zum Beispiel Deutschunterricht für Kinder an. Seit 1891 befindet sich ein jüdischer Friedhof in der Rudelsweiher Straße. Das dazu gehörige Taharahaus, also das Gebäude, in dem die Leichenwaschung (Tahara) an Verstorbenen vor der Bestattung stattfindet, wurde 2017 nach einer Renovierung eingeweiht.

Im Jahr 2021 feiert die Bundesrepublik Deutschland „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Aus diesem Anlass soll nicht nur gegen das Wiedererstarken des Antisemitismus gekämpft, sondern vor allem auch auf die vielfältigen Lebensrealitäten der Jüdinnen und Juden in Deutschland geblickt werden. Auch die JKG Erlangen bietet in diesem Jahr, so weit es die Corona-Pandemie erlaubt, verschiedene Veranstaltungen an. Das Programm findet sich hier.

In diesem Festjahr will die Jüdische Kultusgemeinde Erlangen, zu der auch Jüdinnen und Juden aus Erlangen-Höchstadt gehören, die Suche nach einem eigenen Gebäude forcieren und womöglich auch mit einem passenden Objekt beenden. Die JKG möchte unter anderem aus Sicherheitsgründen schon länger ein eigenes Domizil beziehen, denn in der langen jüdischen Geschichte hatte die JKG noch nie ein eigenes Gebäude.

Auch Jüngere wünschen sich ein eigenen Zentrum, einen Begegnungsort, an dem sie sich treffen, beten und singen können. Der letzte erfolgversprechende Versuch, in Erlangen ein eigenes Haus mit Synagoge zu eröffnen, scheiterte jäh am 19. Dezember 1980. Damals wurde der jüdische Verleger Shlomo Lewin und seine Partnerin Frida Poeschke durch einen Anhänger der verbotenen Wehrsportgruppe Hoffmann ermordet. Lewin hatte diese Pläne zielstrebig verfolgt.

Für den Erwerb einer Immobilie läuft seit Mitte 2021 auch eine Spendenkampagne, die der amerikanische Journalist Terry Swartzberg maßgeblich initiiert und vorangebracht hat. Die Stadt Erlangen hat der JKG inzwischen zwei Immobilien zum Kauf angeboten: das Volkshochschul-Gebäude in der Friedrichstraße. Doch das kommt laut der JKG-Vorsitzenden Ester Limburg-Klaus aus Sicherheits- und baulichen Gründen nicht in Frage. Zudem wurde nun ein früheres Universitätsgebäude in der Bismarckstraße ins Spiel gebracht. "Das würde besser passen", sagt Limburg-Klaus. Doch zunächst muss die JKG das Gebäude begutachten.

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