Kinotipp

Amerika ganz unten: der Oscar-Film "Nomadland"

29.6.2021, 12:03 Uhr
Amerika ganz unten: der Oscar-Film

© Joshua James Richards

Wer das Rodeo-Drama "The Rider" der in Kalifornien lebenden chinesischen Regisseurin gesehen hat, ahnt ungefähr, was ihn erwartet: Chloé Zhao hat einen guten Blick für die amerikanische Gesellschaft. Und sie stellt das Objektiv auf deren Randgebiete scharf.

In "Nomadland" begleitet sie eine etwa 60-jährige Frau aus Nevada, die fast alles verloren hat. Ferns geliebter Mann ist gestorben, durch den wirtschaftlichen Untergang ihrer Bergbau-Heimatstadt Empire im Jahr 2011 hat sie auch ihren Job verloren. Als sogar die Postleitzahl des Ortes gelöscht wird, hält sie nichts mehr. Fern packt alles Nötige in einen Van und ist auf der Suche nach Arbeit fortan zwischen South Dakota, Nevada, Arizona und Kalifornien unterwegs. Auf ihrem Trip ist sie nicht allein, an einschlägigen Parkplätzen begegnet sie den unterschiedlichsten Schicksalsgenossen.

Die Rolle der Reisenden übernimmt die großartige Frances McDormand ("Fargo", "Burn After Reading", "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri"), sie ist eine der wenigen Profi-Schauspieler im Team. Fast alle anderen spielen unter ihren echten Namen fiktive Versionen von sich selbst. Bob, Swankie, Linda May und Derek müssen es nicht mit ihr aufnehmen. Vielmehr ist es McDormand, die sich mit ihrem authentischen Auftritt souverän und uneitel auf Augenhöhe mit den Laien begibt.

Amerika ganz unten: der Oscar-Film

© Searchlight Pictures via www.imago-images.de

Die Menschen in diesem Roadmovie haben ihre beste Zeit hinter sich, sie haben viel gearbeitet, doch für den Ruhestand reicht die Rente nicht. Mit berührender Selbstverständlichkeit nehmen sie Fern in ihre Gemeinschaft auf, deren Credo zukunftssicher "Man sieht sich" lautet.

Überhaupt hat Chloé Zhao angesichts des Themas kein düster-schweres Klage-Drama geschaffen. Sie rückt – durchaus sozialkritisch und nach einem Sachbuch der Journalistin Jessica Bruder – Menschen in den Fokus, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Die allen Unbilden zum Trotz ihre Freude am Leben, die Hoffnung und den Humor nicht verloren haben. Die Freiheit, die sie alle schätzen, ist ohnehin unbezahlbar. Der schöne Soundtrack von Ludovico Einaudi und weite Landschaftsaufnahmen in Licht und Schatten– etwa aus den Badlands in South Dakota – unterstreichen das.

Auch Fern arrangiert sich mit dieser Art zu leben. "Ich bin nicht obdachlos, nur hauslos, das ist etwas anderes!", betont sie einmal. Die Frau in Jeans, Hoodie und mit Kurzhaarschnitt arbeitet gern, etwa als gut bezahlte Packerin in einem riesigen Amazon-Lager, als Aushilfe bei einer Burger-Kette oder auf dem Campingplatz.

Amerika ganz unten: der Oscar-Film

© Searchlight Pictures via www.imago-images.de

Wie sie haben auch alle anderen ihr Päckchen zu tragen. Zhao holt ihre charakterstarken Protagonisten im Close up vor die Kamera, gibt ihnen Zeit und den ganzen Raum, um ihre Geschichte zu erzählen. Durch diese fast dokumentarfilmartige Bildsprache vermeidet sie bei aller Empathie und Melancholie jede aufgesetzte Sentimentalität.

Für Fren, die sich am Ende bewusst gegen ein Leben mit Partner und Haus entscheidet, ist das Reisen ein Heilungsprozess. Die Erinnerungen dürfen irgendwann ruhen, der Blick geht nach vorn. (108 Minuten)

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