Den Blick für das Wesentliche schärfen

13.12.2011, 00:00 Uhr
Den Blick für das Wesentliche schärfen

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„Mensch, werde wesentlich; denn wenn die Welt vergeht, / so fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht.“ Der Sinnspruch Johann Schefflers (1624-1677), der sich Angelus Silesius, „Schlesischer Bote“, nannte, verweist auf den Versuch, die irdischen Gebrechen, Konflikte und Ängste zu überwinden durch einen Rückzug ins Innere der Seele und damit in die Nähe Gottes.

Wenn heute ein erfahrener Psychotherapeut wie Ulfilas Meyer, ausgestattet mit einem kenntnisreichen Blick auf die moderne Welt und höchst belesen in der relevanten Literatur (die mit treffenden Belegen zitiert wird), den Ratschlag gibt, den Alltag auf das Wesentliche zu reduzieren, so kann er nicht mit dem Vorhandensein barocker Mystik rechnen. Er muss versuchen, mit der „Kraft des Denkens“ deutlich zu machen, dass „weniger mehr sein kann“, weil die Menschheit an einem Punkt angekommen ist, „der ihr Weiterexistieren in der bisherigen Art und Weise infrage stellt“.

Der Autor vertraut darauf, dass der Einzelne den Wandel zu vollziehen vermag – auch wenn die Gesellschaft sich weder einschränken will noch umdenken kann. „Die Frage, die sich dann jeder stellt, und die auch die Frage des Reduzierens ist, lautet: Was ist mir wirklich wichtig?“

Mut zum Verzicht

So überwölben die in vier Hauptkapitel gegliederten Themen des Bandes – vertraute Haltungen, Werte und Kategorien des Alltags – die Grundüberzeugung, dass das Individuum seine Unmündigkeit, die darin liegt, dass falsches Denken falsches Handeln bewirkt, zu überwinden vermag. „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, heißt es bei Immanuel Kant.

Ein Grundproblem besteht jedoch darin, dass der Mensch erst einmal „etwas“ zu reduzieren haben muss, bevor er im modernen, konsumorientierten Schlaraffenland durch Verzicht zu einem sinnvolleren Dasein vorzustoßen vermag. Wer sich jedoch im Zustand äußerster Kargheit und Not (wie der überwiegende Teil der Weltbevölkerung) befindet, ist bereits „reduziert“ und muss, um überhaupt überleben zu können, den Traum vom möglichen „Mehr“ haben.

Natürlich gäbe es eine Lösung für solche Widersprüchlichkeit beziehungsweise. Widersinnigkeit. Mit Hilfe antizipatorischer Vernunft, die das so leicht verständliche, aber schwer zu verwirklichende „Maßhalten“ anstrebt, könnte man das Paradies als Topos des bewusstlosen Glücks und damit auch die schmerzvolle Vertreibung aus dem Paradies vermeiden. Der Autor zitiert aus dem Album der „Toten Hosen“: „Ich will nicht ins Paradies, / wenn der Weg dorthin so schwierig ist, wer weiß, ob es uns dort besser geht / hinter dieser Tür…“

Dieses, in seiner undogmatischen Gedankenfülle herausragende Buch hilft zu entscheiden, „was uns wirklich wichtig und wesentlich ist“ und erweist sich somit als ein eindringliches Kompendium fürs Lebens-Curriculum.

Ulfilas Meyer: Weniger kann mehr! Beschränken Sie Ihren Alltag auf das Wesentliche. Primus Verlag, Frankfurt. 208 Seiten, Euro 19,90.
 

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