Vor der Premiere

Der Operncheck: Was kann man von Bizets "Carmen" im Opernhaus Nürnberg erwarten?

29.9.2021, 05:55 Uhr
Eigenwillig und entschlossen: Carmen (Anna Dowsley).

© Foto: Bettina Stoess Eigenwillig und entschlossen: Carmen (Anna Dowsley).

Mitreißende Musik mit Ecken und Kanten

Natürlich kann man in Georges Bizets "Carmen" (Premiere am Samstag, 2. Oktober, 19,30 Uhr, Opernhaus) nur wegen der Musik gehen. Klingt in unseren Ohren typisch spanisch, was aber nicht stimmt. Die Habanera ist wohl das berühmteste Stück daraus, ihr Titel "L'amour est un oiseau rebelle" charakterisiert nicht nur die Eigenwilligkeit der Protagonistin, sondern verweist mit ihrem französischen Titel auch auf ein Phänomen, das man heute "kulturelle Aneignung" nennen kann.

Für Regisseurin Vera Nemirova ist Carmen eine "Märtyrerin der Freiheit".

Für Regisseurin Vera Nemirova ist Carmen eine "Märtyrerin der Freiheit". © Bettina Stoess

Zwar spielt die Handlung in Südspanien, doch schon die Novelle "Carmen", die die Basis der Oper ist, stammt vom französischen Autor Prosper Merimee. Die Librettisten der Oper, Henri Meilhac and Ludovic Halévy, sind ebenfalls Franzosen. Und Georges Bizet war in seinem kurzen 36-jährigen Leben niemals in Spanien, sondern verbrachte die meiste Zeit in der französischen Hauptstadt.

Somit ist die Oper "Carmen" ein Produkt des Paris des 19. Jahrhunderts, ihre Musik repräsentiert eine Art Kunst-Spanien, in das die Autoren viele Klischees gepackt haben. Klappernde Kastagnetten genauso wie hüftschwingende Vollblutfrauen und Torero-Machismo à la Escamillo, dessen Arie zum Inbegriff von Stierkampf-Musik geworden ist.

Das kann man natürlich mit sattem Orchesterklang und schön plüschig musizieren; auf der gepolsterten Rezitativ-Fassung von Bizets Freund Ernest Guiraud gründete viele Jahrzehnte der weltweite Erfolg des Werks.

Oder man geht weg vom traditionellen Sound der Folkloreoper, wagt stattdessen rauere Klänge, die an Jahrmarkt und Straßenmusik erinnern, lässt die Musik manchmal schrill tönen, ja, sogar lärmen.

In Nürnberg wird Guido Johannes Rumstadt, der Erste Kapellmeister des Staatstheaters, das Werk dirigieren. Wir dürfen gespannt sein, welche Richtung seine musikalische Interpretation der Oper einschlagen wird.

Fragwürdiger Blick auf Außenseiter und Frauen

Prallen aufeinander, und es tut beiden nicht gut: Don Jose (Tadeusz Szlenkier) und Carmen (Anna Dowsley).

Prallen aufeinander, und es tut beiden nicht gut: Don Jose (Tadeusz Szlenkier) und Carmen (Anna Dowsley). © Bettina Stoess

Die französischen Macher der Oper schauen nicht gerade mit Hochachtung auf ihr Nachbarland jenseits der Pyrenäen und auf ihre Hauptfigur. Carmen wird als "Zigeunerin" tituliert und dem fahrenden Volk zugeordnet. Sie wird als einfache Arbeiterin in einer Zigarettenfabrik gezeichnet, das riecht nicht nur nach Tabak, sondern auch nach Unterschicht.

Ein heruntergekommenes Theater ist der Schauplatz der Nürnberger "Carmen".

Ein heruntergekommenes Theater ist der Schauplatz der Nürnberger "Carmen". © Bettina Stoess

Dass sie sich selbst zu helfen weiß, in einer Auseinandersetzung mit Kolleginnen zum Messer greift und sich ihre Männer nach eigenem Geschmack und eigener Lust aussucht, geht da natürlich gar nicht. Dem Sergeanten Don Jose verdreht sie gehörig den Kopf. Dieser will plötzlich nicht mehr das Mädchen Micaela heiraten, das seine Mutter für ihn ausgesucht hat. Er tut lieber einige fragwürdige Dinge für Carmen, mit denen er seine Laufbahn im Militär zerstört.

Im Verhältnis zwischen Don Jose (Tadeusz Szlenkier) und Carmen (Anna Dowsley) ist sie die Chefin.

Im Verhältnis zwischen Don Jose (Tadeusz Szlenkier) und Carmen (Anna Dowsley) ist sie die Chefin. © Bettina Stoess

Als sich Carmen von Don Jose abwendet und mit dem erfolgreichen Torero Escamillo anbandelt, rastet Don Jose aus. Vor der Stierkampfarena, in der Escamillo gerade einen Triumph feiert, ersticht er Carmen. Aus heutiger Sicht ein klassischer Fall von Femizid. Ein sich zurückgesetzt fühlender Mann tötet eine Frau. Aber in der Welt der Oper des 19. Jahrhunderts hatte alles wieder "seine Ordnung": die eigenwillig handelnde Frau, die noch dazu am gesellschaftlichen Rand verortet wird, muss am Ende sterben - als sei es eine Strafe.

International anerkannte Regisseurin

Auftritt eines Showmans: Escamillo (Sangmin Lee).

Auftritt eines Showmans: Escamillo (Sangmin Lee). © Bettina Stoess

Die Deutsch-Bulgarin Vera Nemirova (Jahrgang 1972) zählt zu den international renommierten Regisseurinnen. 1982 kam sie mit ihren Eltern in die damalige DDR, studierte an der Musikhochschule Hanns Eisler in Berlin, die Regie-Größen Ruth Berghaus und Peter Konwitschny waren prägende Lehrmeister, von denen sie sich aber längst emanzipiert hat.

Kommen nicht voneinander los: Don Jose (Tadeusz Szlenkier) und Carmen (Anna Dowsley).

Kommen nicht voneinander los: Don Jose (Tadeusz Szlenkier) und Carmen (Anna Dowsley). © Bettina Stoess

Seit 1996 arbeitet sie freischaffend an großen europäischen Opernhäusern wie dem Teatro Liceu Barcelona, der Staatsoper Berlin und der Wiener Staatsoper. Ihre Regie setzt ein Werk immer dezidiert in Bezug zur Gegenwart. Oft wird ihre Mischung aus psychologischer Präzision und spielerisch-ironischem Witz gelobt.

Die Nürnberger "Carmen" spielt in einer rauen Gesellschaft.

Die Nürnberger "Carmen" spielt in einer rauen Gesellschaft. © Bettina Stoess

"Carmen stirbt als Märtyrerin der Freiheit", sagt Nemirova zu ihrer Nürnberger Inszenierungsidee. "Die Freiheit ist für sie das höchste Gut. Dafür ist sie bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Deshalb fasziniert uns diese Figur." In die Quere komme Carmen dabei aber die Rezeptionstradition der Oper: "Auf ihrem Siegeszug durch die Bühnen dieser Welt muss sie sich jedoch immer wieder gegen ihr eigenes Klischee behaupten", sagt Nemirova. "Das Bild von der Femme fatale, von der triebhaften Zigeunerin mit der Blume im Haar, scheint den utopischen Keim dieser Figur zu verbergen. Befreit man sie davon, dringt man vor zum Kern: ,Töte mich, oder lass mich gehen.‘"

Debüt einer spannenden Gastsängerin

Gegen Carmen hat Micela (Julia Grüter) keine Chance.

Gegen Carmen hat Micela (Julia Grüter) keine Chance. © Bettina Stoess

Die Titelpartie von "Carmen" ist ein Prüfstein und ein Muss für alle Mezzosopranistinnen. In Nürnberg übernimmt diese die australische Gastsängerin Anna Dowsley, die seit ihrem Debüt am Syndey Opera House 2014 kräftig durchstartet. Nach Erfolgen in ihrem Heimatland wurde England zu einem weiteren wichtigen Karrierestandbein. Die Carmen wird sie in Nürnberg zum ersten Mal singen und mit diesem Debüt ihr Rollenrepertoire entscheidend erweitern.

Tragende Rollen für das Opernensemble

Die Nürnberger Inszenierung von "Carmen" spielt mit Spanien-Klischees.

Die Nürnberger Inszenierung von "Carmen" spielt mit Spanien-Klischees. © Bettina Stoess

Die übrigen Gesangspartien sind überwiegend tragenden Größen des Nürnberger Opernensembles anvertraut. Die zwischen Empfindsamkeit und Hysterie schwankende und schwierig zu singende Partie des Don Jose übernimmt Tadeusz Szlenkier, in weiteren Rollen singen Sangmin Lee (Escamillo), Julia Grüter (Micaela), Andromahi Raptis (Frasquita), Martin Platz (Remendado) und Hans Kittelmann (Dancairo).

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