Deutschrap-Dominanz: Wie Streaming die Musik verändert

1.12.2019, 14:35 Uhr
Der Streamingbranche wächst und wächst. Spotify ist der größte Anbieter auf dem Markt.

© Ole Spata/dpa Der Streamingbranche wächst und wächst. Spotify ist der größte Anbieter auf dem Markt.

Mitte Oktober 2018 trägt die Dominanz eine Lacoste-Cap. RAF Camora kniet in seinem Studio, am Armgelenk die obligatorisch hochpreisige Uhr. Vor ihm: Vier Goldene Platten, die im Set geliefert wurden. Hinter ihm: noch mehr Goldene Platten, Platinplatten - die ganze Wand ist voll von ihnen, ein halbes Dutzend steht bunt durcheinander gewürfelt auf dem Boden. Auf Instagram postet der Rapper als Kommentar zu dem Foto selbst nur ein Herz.

Es sind Rekordtage, Tage, wie sie die deutschen Musik-Charts noch nie erlebt haben. Tage, die in einem Verhältnis zum Ausdruck kommen: Acht von zehn Songs an der Spitze der Single-Hitliste stammen von ein und demselben Künstler-Duo, eben jenem RAF Camora, der gerade gemeinsam mit Bonez MC sein Album "Palmen aus Plastik 2" veröffentlicht hat. Die ersten drei Plätze gehören den Rappern gar komplett. "Diese Leistung ist wahrhaft einmalig", heißt es in einer Pressemitteilung der Deutschen Charts.

Dabei ist eben jener Tag im Herbst nur der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die sich seit Monaten angekündigt hat - und die bis heute andauert. Deutscher Rap dominiert die Charts. Was klingt wie eine Standortbeschreibung der Musiklandschaft, ist eher eine über das Konsumverhalten der Deutschen. Streaming hat die Hitlisten verändert, so dramatisch, dass die Mechanismen dahinter immer wieder angepasst werden müssen. Die Verantwortlichen dafür rappen ihre Texte, sie verdienen Millionen damit.

Deluxe-Boxen mit T-Shirts für mehr Einnahmen

"HipHop ist sehr, sehr beliebt", sagt Hans Schmucker. Er ist Experte bei der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), die im Auftrag des Bundesverbandes Musikindustrie die Charts ermittelt. Rapper, erklärt er, nutzen die Spielregeln dabei besonders clever. Fans hören ihre Songs in Dauerschleife auf Spotify, Amazon Music und Deezer - und hieven sie mit spielender Leichtigkeitigkeit regelmäßg auf den Thron der Hitlisten. "Dieses Phänomen gab es vor dem Streaming tatsächlich nicht", sagt Schmucker.


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Zusätzlich schnüren Rap-Musiker sogenannte Deluxe-Boxen für ihre Alben, denen sie ein T-Shirt, eine Sturmmaske oder gar eine Brechstange beilegen. Jede kreative Kuriosität ist erlaubt. Sie kosten oftmals um die 40 Euro, was Kalkül ist, denn: Bis zu eben jenem Betrag erfasst die GfK Umsätze für die Charts. Über die 40 Euro für die Box werden, im Vergleich zum normalen Album für rund 20 Euro, im Prinzip zwei verkaufte Einheiten gezählt.

Dabei spielt eine weltweite Ausnahme eine Rolle. Die deutschen Charts nämlich, erklärt Schmucker, orientieren sich am generierten Umsatz und nicht, wie der Rest der Welt, an der tatsächlich verkauften Stückzahl. Doch auch andere Rankings, etwa die berühmten Billboard 100 aus den USA, kämpfen mit ähnlichen Problemen, etwa wenn der Rapper Drake ein Album veröffentlicht.

Die "Spotify-Diktatur"

Damit die Charts ihre Aussagekraft behalten, schraubt die GfK immer wieder an den Mechanismen zur Berechnung. Auch wegen RAF Camora und seiner Rekordwoche habe man etwa die sogenannte "Fokus-Track-Regel" eingeführt. Das bedeutet: Kurz nach Veröffentlichung eines Albums darf, abgesehen von den Single-Auskopplungen, nur noch ein weiterer Song in die Charts. Die anderen werden zwei Wochen lang für die Hitliste geblockt. So will die GfK verhindern, dass ein Künstler die Hitlisten dominiert.

Doch das Problem liegt tiefer. Mitte des Jahres schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung etwa von der "Spotify-Diktatur", davon, dass die Macht über Musik neu verteilt worden sei - zugunsten des Streamings. "Wenn etwas in der Playlist der Dienste hoch geführt ist, dann hat es gute Chancen, in den Charts zu landen", sagt auch Schmucker von der GfK. Damit können die Anbieter einen gewissen Druck auf die Künstler ausüben. Und die Musikschaffenden reagieren darauf.

"Das ändert teilweise die Art, wie an Songs herangegangen wird", sagt Konrad von Löhneysen. Er kennt die Branche, ist Geschäftsführer beim Berliner Indie-Label "Embassy of Music" und Vorstand der außerordentlichen Mitglieder beim Bundesverband der Musikindustrie, der 80 Prozent des Marktes repräsentiert. Früher habe es sogenannte Radio-Edits gegeben, die für den Hörfunk zugeschnitten wurden, sagt Löhneysen. " Das war ein Schritt, der im Nachinein stattgefunden hat. Heute wird zum Teil direkt fürs Streaming produziert."

"Das ist nur fürs Streaming so gebaut"

Konkret heißt das etwa, dass sich die ersten 30 Sekunden eines Songs verändern - ein Zugeständnis an den Algorithmus der Streaming-Dienste. Geld wird erst ausgeschüttet, wenn der Hörer eine halbe Minute an einem Track kleben bleibt. Dementsprechend krawallig und auffällig beginnt die Musik. Skippen verboten. "Die Songs werden auch kürzer", erklärt Löhneyen. "Das ist logisch, weil jeder Play, also jede Nutzung eines Songs, monetarisiert wird. Das macht die Musik aber nicht immer besser."

Auffällig ist auch, dass immer mehr Künstler mit Musikern aus komplett anderen Genres kollaborieren. "Wenn man sich die Top50 in den USA etwa ansieht, da sind nicht einmal mehr 30 Prozent Titel, die von einem Künstler stammen", sagt Löhneysen. "Da ist dann schon der Verdacht da, dass das fürs Streaming gebaut ist." In der Tat, die Zusammenarbeiten klingen abenteuerlich: Der irische Schmuse-Sänger Ray Garvey veröffentlicht Songs mit Kool Savas, Schlager-Sternchen Vanessa Mai singt mit dem Rapper Olexesh und Capital Bra baggert seit Monaten bei Genre-Königin Helene Fischer wegen eines Features. "Oft geht es darum, die Reichweite zu erhöhen, das Potenzial besser abzurufen", sagt Löhneysen. Es geht um Millionen.

Deezer experimentiert mit "User Centric"-Modell

"Jeder Stream wird monetarisiert", sagt Löhneysen. "Das heißt: Je öfter ein Song auf dem Schulhof herumgereicht wird, desto mehr Geld landet in den Taschen der Künstler." Gerade das junge Publikum drücke immer wieder auf den "Repeat"-Button, höre Songs dutzendfach. "Ältere Menschen machen das nicht."

Diesen Mechanismus will der Streamingdienst Deezer durchbrechen. In seinem Heimatland ist der fränzosische Anbieter unangefochtener Marktführer. Auch weil die Politik dort Druck macht, experimentiert Deezer derzeit mit einem sogenannten "User Centric"-Modell, dass das bisherige Abrechnungssystem auf den Kopf stellt. Bislang landen alle Einnahmen aus Streaming in einem Topf und werden nach der Anzahl der Aufrufe eines Songs ausgeschüttet. Ein System, das große Stars bevorzugt - bei kleineren Künstlern landet verhältnismäßig wenig, wie Studien zeigen.

Deezer will nun die monatliche Gebühr jedes einzelnen Abonnenten unter den von ihm gehörten Künstler verteilen. Heißt: Die zehn Euro, die ein Nutzer zahlt, gehen - abzüglich dessen, was der Streaminganbieter einstreicht - an die Musiker, die er auch wirklich gehört hat. Die Rechteinhaber müssen dem Experiment allerdings noch zustimmen.

"Ein Nutzer-basierter Ansatz ist der nächste logische Schritt. Er bedeutet, dass Fans direkt den Künstler unterstützen, den sie lieben"
- Alexander Holland, Chief Content und Strategy Officer bei Deezer

"Das würde das System verändern", sagt Branchenkenner und Experte Löhneysen. Weil Deezer damit auch Streams sogenannter Bots herausnimmt, würde das "jede Form der Manipulation wirklos machen". Der gebürtige Nürnberger warnt aber auch vor zu viel Pessimismus. Generell hätten Internet und Streaming viel zum Positiven hin verändert. "Musiker brauchen nur noch eine Plattform, über die ihre Musik aufgerufen werden kann", sagt er. "Der Rest liegt in deren Hand."

Weit über zehn Millionen Menschen in Deutschland bezahlen für Spotify, Deezer oder Amazon Music - wir sind eine Republik der Streamer. "Das stellt alles andere in den Schatten", sagt Löhneysen. Auch Hans Schmucker von der GfK ist sich sicher: "Diese Art, Musik zu konsumieren, ist in der Masse angekommen. Und wir gehen davon aus, dass diese Entwicklung weitergeht."


So werden die Deutschen Charts ermittelt: In die Berechnung fließen alle physischen und digitalen Verkäufe sowie Erlöse aus Streaming ein. Aufrufe auf YouTube werden - auch wenn dadurch Werbeeinnahmen erzielt werden - nicht berücksichtigt. "Nur wenn der Kunde selbst bezahlt, ist es relevant", erklärt Hans Schmucker von der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), die die Hitlisten erstellt. Bei Tonträgern werden die Daten von speziellen Kassensystemen automatisiert und anonymisiert an die GfK übermittelt. Maßgeblich sind dabei die Umsätze, die generiert werden, nicht die tatsächlich verkaufte Stückzahl.

Beim Streaming werden alle Aufrufe gezählt, bei denen mehr als 30 Sekunden mit einem bezahlten Abonnement gehört wird. "Erst dann zahlt auch etwa Spotfiy den Künstlern etwas", sagt Schmucker. "Sonst gehen sie leer aus". Eine Chartwoche geht von Freitag bis Donnerstag - am nachfolgenden Tag werden die Zahlen veröffentlicht.

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