Kolonialisierung

Ein Stück Kolonialismus: Neuendettelsauer Missionare in Neuguinea

23.5.2021, 05:56 Uhr
Er war der Pionier unter den Missionaren aus Neuendettelsau: Johann Flierl mit Dorfbewohnern im damaligen deutschen Südsee-Protektorat Kaiser-Wilhelm-Land.

© Archiv Mission EineWelt, NNZ Er war der Pionier unter den Missionaren aus Neuendettelsau: Johann Flierl mit Dorfbewohnern im damaligen deutschen Südsee-Protektorat Kaiser-Wilhelm-Land.

Stellen Sie sich mal vor, Fremde kommen in Ihre Heimat. Sie beuten die Gegend aus – aber die Gewinne gehen nicht an Sie, sondern an die Zugereisten. Die bringen auch ihre Priester mit, zwingen Sie und alle hier Lebenden, Kreuze, Rosenkränze und alles Christliche wegzuwerfen und dem Kult der Eindringlinge zu dienen. Sie wären vermutlich kaum begeistert.

So sammelte man bis in die 1960er Jahre Spenden für die Mission: eine mechanische Spardose mit einem „Nick-Neger“, wie es damals hieß.

So sammelte man bis in die 1960er Jahre Spenden für die Mission: eine mechanische Spardose mit einem „Nick-Neger“, wie es damals hieß. © Annette Zoepf/epd, NNZ

Genau so aber agierten die Missionare, die seit Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch von Neuendettelsau aus in die Welt geschickt wurden. Zuerst nach Nordamerika, dann in die Südsee, nach Neuguinea. Auf der Suche nach Kolonien hatten dort, auf der nach Grönland zweitgrößten Insel, zuerst die Niederländer Fuß gefasst. Großbritannien und das Deutsche Reich teilten sich später den Ostteil auf.

Geistliche Zurichtung

"Kaiser-Wilhelms-Land" hieß das deutsche Territorium, wirtschaftlich ausgebeutet durch die Neuguinea-Kompagnie. Für die geistliche Zurichtung der "Eingeborenen" war auf protestantischer Seite das Missionswerk in Neuendettelsau zuständig.

Dort baute der aus Fürth stammende Pfarrer Wilhelm Löhe um 1850 herum auf, was heute ein Diakonie-Imperium ist: Er setzte, sehr fortschrittlich, auf soziales Engagement der Kirche durch Diakonissen – die innere Mission. Die äußere Mission: das war zunächst die geistliche Begleitung der vielen Auswanderer aus Deutschland gen USA, dann die Missionierung dort.

Zwei von vielen Sammelstücken in Neuendettelsau: Modelle von Papua-Häusern.

Zwei von vielen Sammelstücken in Neuendettelsau: Modelle von Papua-Häusern. © Daniel Staffen-Quandt/epd, NNZ

"Ein Eifriger, ein Erweckter, dem die anderen Pfarrer nicht fromm genug waren": So beschreibt Katharina Döbler diesen Löhe in ihrem neuen Roman "Dein ist das Reich". Und das Löhesche Sendungsbewusstsein prägte Neuendettelsau über hundert Jahre lang – mit einer "Mischung aus Bildung und Zurichtung", die Döbler auch in ihrer Familie erlebte; alle ihre Großeltern waren in der Mission in Neuguinea, ihre Eltern wurden dort geboren.

"Weiße Gäste"

"Dass er und die anderen Weißen dort Gäste waren, kam ihm gar nicht in den Sinn", schreibt die 64-Jährige, die in Gunzenhausen geboren wurde und in Berlin lebt, über einen ihrer Großväter. "Wie die meisten Missionare hatte er kaum einen Begriff von den Sitten, gegen die sie dauernd verstießen . . . Was die Neuguineer davon hielten, dass die Weißen sich auch in ihrem Land breitmachten, darüber sprach in meiner Familie niemand."


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Katharina Döbler liefert so etwas wie den Roman zur aktuellen Debatte um Rassismus und Kolonialismus. Der Historiker Götz Aly beleuchtet gerade genau dies ebenfalls, am Beispiel Neuguinea mit Blick auf jenes Prunk-Schiff, das sich Deutsche 1882/83 im Zuge eines Massakers an den Bewohnern der Insel Luf aneigneten und 1903 nach Berlin brachten; nun soll es ein Ausstellungsstück im Humboldtforum werden.

Kultgegenstände der Papua in Neuendettelsau

In Neuendettelsau lagern Hunderte von Objekten, Alltags- und Kultgegenständen der Papua, allesamt mitgebracht von Missionaren. Momentan arbeitet eine Ethnologin im Auftrag von "Mission Eine Welt" an der Katalogisierung dieser Exponate; die Aufarbeitung hat erst begonnen.

"Mission Eine Welt": Das ist die quasi politisch geläuterte Nachfolgeorganisation des Löheschen Missionswerks, das 1972 unters Dach der bayerischen Landeskirche wanderte; die Diakonie wiederum arbeitet seit 2019 unter dem Namen "Diakoneo", eigenständig.

Autorin Katharina Döbler

Autorin Katharina Döbler © NNZ

"Der christliche Glaube ist ein Angebot und wird niemandem aufgezwungen" – so Gabriele und Hanns Hoerschelmann, die "Mission Eine Welt" leiten. "In unserer Arbeit geht es um partnerschaftliches Miteinander", betonen sie. Auch heute noch gibt es enge Kontakte zur mittlerweile eigenständigen lutherischen Kirche in Neuguina, sind Mitarbeitende weltweit im Einsatz.

Dass die Missionare der Ausbeutung damals Vorschub leisteten, bestreiten die Hoerschelmanns: "Der Kolonialismus hätte ohne Mission wahrscheinlich viel besser funktioniert." Allerdings sei auch die Arbeit der Missionare vor 1945 "nicht selten geprägt gewesen von einem eurozentrischen Weltbild und dem Gefühl und Habitus vermeintlicher Überlegenheit." Das hatten auch Katharina Döblers Vorfahren, die sie als "Söldner Gottes" in einer Art Gottesstaat beschreibt.

Hakenkreuzfahnen in der Südsee

Mit sehr viel Nähe zum aufstrebenden Nationalsozialismus, der – wie in ganz Westmittelfranken – in Neuendettelsau lange vor Hitlers "Machtergreifung" verankert war. Auch in Neuguinea wehten Hakenkreuzfahnen, es gab eine Ortsgruppe der NSDAP, Missionare und ihre Frauen waren – wie in Döblers Familie – Mitglieder. Als "Steigbügelhalter der Nazis" bezeichnet der frühere Lehrer und Historiker Hans Rößler die Leitung der Mission.

Er schrieb ein preisgekröntes Buch über die NS-Zeit in und um Neuendettelsau, wo er lebt. In vorauseilendem Gehorsam diente sich die Missionsanstalt Hitler an; zu dessen Geburtstag am 20. April 1933 sandte ihm Anstaltsleiter Friedrich Eppelein mit den NSDAP-Größen des Ortes ein "Hitlerlied". Zitat: "Es ist ein Führer uns von Gott gegeben / Er stürmt voran, wir folgen treu gesinnt. / Er geht durch Nacht und Tod hindurch zu Licht und Leben / Es wird nicht Ruhe, bis wir Sieger sind."

"Nazi aus Überzeugung"

Gedichtet hat dies der frühere Neuguinea-Missionar Christian Keyßer (1877-1961), der als "Kuhnert" in Döblers Roman auftaucht. Er war charismatisch in seinem Einsatz in der Südsee – und fanatisch als frommer Nationalsozialist. An die Spruchkammer Ansbach, die über seine Rolle in der NS–Zeit befand, schrieb er 1946: "Ich war Nazi aus Überzeugung und freiem Willen."

Historiker Rößler: "Über Keyßers Rolle in der NS-Zeit ist noch keine Debatte geführt worden." Es gab in der "Gesellschaft für innere und äußere Mission im Sinne der lutherischen Kirche e.V.", einem Überbleibsel der Löheschen Mission, sogar fertige Pläne, dem glühenden Nationalsozialisten wegen dessen Verdiensten um die Mission ein Denkmal in Neuendettelsau zu setzen – vor rund zehn Jahren. "Ich konnte sie davon abbringen", berichtet Rößler, der noch reichlich Forschungsbedarf erkennt.


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Den gibt es auch, was die Erziehung der Kinder der in die Südsee entsandten Familien angeht. Während ihre Eltern in Neuguinea missionierten, wurden Töchter und Söhne im "Neuguinea-Heim" untergebracht. Ein "sehr schwieriges Thema" sei das, sagen die Hoerschelmanns, die dazu eine "umfassende Aufarbeitung mit unabhängiger wissenschaftlicher Expertise" planen. "Nach allem, was wir wissen, war die Situation teilweise furchtbar." Katharina Döblers Mutter hat darunter gelitten. Sie wurde, so die Autorin, dort mit teils heftigen Methoden erzogen.

Das Ergebnis: Sie "war eine Meisterin des Weghörens und Nichtwissens, erzogen in einem Kinderheim zur Nazizeit in einem Nazinest."

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