Einen Koffer in London: Bernardine Evaristo erzählt flott von schwarzen Frauen

6.4.2021, 15:17 Uhr
Bekam den renommierten Booker Prize: Autorin Bernardine Evaristo.

© Jennie Scott/Verlag Klett-Cotta Bekam den renommierten Booker Prize: Autorin Bernardine Evaristo.

Bisweilen ist es schwierig, die Übersicht zu bewahren: Während man für jede noch so spezifische Lebensform und für jedes noch so außergewöhnliche Thema im Internet einen Chatroom oder ein Forum findet, wird die Wirklichkeit in der Gesamtschau immer komplexer.

Was manche wiederum dazu verleitet, ein paar wenige Schubladen aufzumachen, mit deren Hilfe sich die Welt vermeintlich leichter sortieren lässt. Im ungünstigsten Fall wird dann in Schwarz-weiß gezeichnet.

Genau dagegen schreibt die britische Schriftstellerin Bernardine Evaristo mit ihrem achten Roman „Mädchen, Frau etc.“ an. Der englische Originaltitel „Girl, Woman, Other“ führt etwas differenzierter zum Thema.

In dem 2019 mit dem renommierten Booker-Preis ausgezeichneten, jetzt auf Deutsch erschienenen Buch lässt Evaristo einen eigenwilligen Chor von Frauen auftreten, der nicht auf Harmonie und Homogenität zielt, sondern jeder einzelnen eine individuelle Stimme gibt. Zwölf Frauen zwischen 19 und 93 Jahren werden da vorgestellt.

Das deutsche Cover des Romans.

Das deutsche Cover des Romans. © Verlag Klett-Cotta

Sie arbeiten in den unterschiedlichsten Berufen, kommen aus allen möglichen gesellschaftlichen Schichten, haben verschiedene sexuelle Identitäten. Viele von ihnen gehören der LGBTQI*-Szene an. Das hebt den Roman auf die Höhe der Zeit.

Alle Protagonistinnen leben in London oder haben zumindest einen Koffer in der britischen Hauptstadt. Und sie alle sind schwarz. Evaristo, 1959 als Tochter einer englischen Mutter und eines nigerianischen Vaters geboren und in London Professorin für kreatives Schreiben, wollte möglichst vielen solcher Frauen ein Podium geben.

Identität und Herkunft

In den zwölf Porträts geht es nicht nur um die Frauen selbst, sondern immer auch um Fragen unserer Zeit in einer globalisierten Welt. Alltags-Rassismus – selbst wenn man beim Lesen die Hautfarbe leicht vergisst – ist ebenso ein Thema wie der Stand und die Formen des Feminismus.

Individualität, auch die sexuelle, spielt ebenso eine Rolle wie Identität und Herkunft, Selbstverwirklichung oder der Platz in der Gesellschaft. Auch der Part der Sozialen Medien bekommt Raum.

Leicht im Ganzen beschreiben lässt sich der vielstimmige Stoff nicht. Die Geschichten sind lose verbunden, gleichen mehr einem Kaleidoskop als einem fließenden Roman. Immer wieder taucht eine der Figuren als Nebendarstellerin in einer anderen Story auf und wird so von einer weiteren Seite, nicht immer der vorteilhaftesten, beleuchtet.

Evaristo schildert all das mit gesellschaftspolitischer Genauigkeit und viel Empathie für ihre Hauptcharaktere, die sich auf den Leser und die Leserin (es werden wohl hauptsächlich Letztere sein) überträgt. Doch mitunter tut sie es in einer Dichte und Facettenvielfalt, die schon mal aufgesetzt und dozierend wirken kann. Das macht die Lektüre dann etwas anstrengend. Aufgefangen werden solche Momente oft durch den leichten Humor, der überzeichnete Figuren und deren Anspruchshaltung gleich wieder persifliert – und so entlarvt. Da bezieht Evaristo durchaus Stellung.

Als lockerer Rahmen dient das feministische Theaterstück der lesbischen, alleinerziehenden und einst radikalen Dramatikerin Amma, das „heute Abend“ im etablierten National Theatre Premiere haben wird. All die Geschichten von der jungen Yazz, von Dominique, Bummi, Carole, Penelope, der alten Hattie und den anderen werden bis dahin erzählt sein.

Eigener Rhythmus

Und tatsächlich gibt Evaristo ein Tempo vor, das seinesgleichen sucht. Einen Punkt gönnt sich die Autorin erst am Ende des Kapitels, manchmal ersetzt ein Absatz ein Komma, mitunter besteht die Zeile aus nur einem Wort. Ein eigener Rhythmus, der einzelnen Aussagen Nachdruck verleiht. Ein Stil, der anfangs irritiert, aber bald durch seine Lebendigkeit mitreißt.

Das gilt vor allem für die erzählten Passagen, den Dialogen fehlt es manchmal genau daran. Die Leidenschaft, mit der Bernardine Evaristo schreibt, ist allemal beeindruckend – nicht nur für die Jury des Booker-Preises.

Bernardine Evaristo: Mädchen, Frau etc.. Roman aus dem englischen von Tanja Handels. Tropen Verlag. 512 Seiten, 25 Euro.

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