Vertreibung aus der Heimat

Erinnerung an Onkel Josef: Ein Regal als Symbol einer schmerzhaften Familiengeschichte

28.8.2021, 16:09 Uhr
Die Ballerina an der Tür des Regals, das mein Onkel gebaut hat, habe ich als Kind besonders gemocht. Ich bin froh, dass meine Kinder mit diesem Möbelstück aufwachsen können. Es steht für das Schicksal meiner Familie und auch dafür, dass es für uns weitergeht.  

© Michael Matejka Die Ballerina an der Tür des Regals, das mein Onkel gebaut hat, habe ich als Kind besonders gemocht. Ich bin froh, dass meine Kinder mit diesem Möbelstück aufwachsen können. Es steht für das Schicksal meiner Familie und auch dafür, dass es für uns weitergeht.  

Das schmale mehrstöckige Regal habe ich als kleines Mädchen geliebt. In der Tristesse der sowjetischen Normierung war meine Etazherka – wie die russische Ableitung von Etage heißt – einfach einmalig.

Vor allem die kunstvoll in die Tür geschnitzte Ballerina verlieh meinem Regal, in dem alle meine Spielsachen Platz fanden, einen besonderen Charme. So ein Möbelstück hatte keine meiner Freundinnen. So ein Möbelstück hatte kein anderes sowjetisches Kind. Denn das Regal hatte mein Onkel Josef Schindler eigenhändig angefertigt. Er war handwerklich begabt, hatte einen ernsten, aber freundlichen Blick, etwas unbändiges Haar und große Ohren, wie die meisten Schindlers, und vor allem – er blieb ewig jung.

Denn nur so kannte ich ihn vom Foto, das im elterlichen Wohnzimmer an der Wand im ovalen Holzrahmen hing. Als ich auf die Welt kam, war Onkel Josef seit Jahrzehnten tot. Seine Geschichte, wie die Geschichte meiner gesamten Familie, erfuhr ich erst viel später. Meine Eltern wollten mich mit der Wahrheit nicht belasten.

Josef Schindler war keine 35 Jahre alt, als er an Erfrierungen starb - im Winter 1942 in Russland, weit weg von der Ukraine, wo er groß geworden war und von wo ihn die Sowjets deportiert hatten. Wie meine gesamte Familie, wie unzählige andere Russlanddeutsche. Ihre Volkszugehörigkeit wurde ihnen zum Verhängnis.

Dramatische Wendung

Es war der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941, der eine tragische Wendung in das Leben der Russlanddeutschen brachte. Kurz darauf bezichtigten die Sowjets die deutsche Minderheit pauschal, mit den Angreifern zu kollaborieren. Am 28. August 1941 unterschrieb das oberste politische Organ des Landes einen Erlass zur Übersiedlung der Deutschen aus dem Wolgagebiet, wo sie in einer Autonomen Republik lebten.

"Es war ein Schlüsselereignis in der 200-jährigen Geschichte der deutschen Minderheit in Russland und der Auftakt einer umfassenden Reihe von Repressionen." So ordnet es der Historiker Viktor Krieger ein, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland in Nürnberg. Laut Krieger hegte Josef Stalin starke Ressentiments gegenüber bestimmten ethnischen Gruppen, darunter die Russlanddeutschen. Der Krieg mit Nazi-Deutschland war ein willkommener Anlass, um sie zu schikanieren. Der Historiker Viktor Herdt spricht von insgesamt etwa 35 Verordnungen, Befehlen und Beschlüssen, die gravierende Folgen für die Minderheit hatten.

Keine Gruppe blieb verschont, so mussten auch die Deutschen aus der Ukraine und anderen europäischen Gebieten der Sowjetunion ihre Heimat verlassen. Krieger zufolge wurden mindestens 800 000 Russlanddeutsche bis Ende 1941 zwangsweise umgesiedelt.

Aus der Ukraine wurden im ersten Kriegsjahr etwa 83 000 Menschen verbannt. Meine Verwandten mussten im Oktober 1941 die wenigen Habseligkeiten, die sie mitnehmen durften, binnen 24 Stunden packen, bevor man sie in Viehwaggons nach Westsibirien brachte.

Onkel Josefs Regal, das er in den 1930er Jahren gebaut hat, mussten sie freilich zurücklassen. Meine Großeltern überließen es den ukrainischen Nachbarn. Die Reise dauerte lange und war sehr mühsam, erzählte mir mein Vater später, der damals 16 Jahre alt war. Viele Familien wurden auseinandergerissen. In Westsibirien kam meine Familie ohne Josef Schindler an. Niemand wusste, wo er war und wie es ihm ging.

Während es meine Familie nach Westsibirien verschlug, wurden viele Russlanddeutsche in die asiatischen Sowjetrepubliken deportiert – Kasachstan, Usbekistan oder Kirgistan. "Die meisten wurden auf dem Land untergebracht. Arbeit in erlernten Berufen war kaum möglich", berichtet der Historiker Krieger.

Die Russlanddeutschen bekamen einen Sondersiedler-Status: Die ihnen zugewiesenen Wohnorte durften sie nicht weiter als fünf Kilometer verlassen. Bei Widersetzung drohte im schlimmsten Fall "bis zu 20 Jahre Straflager", so Krieger. Sie hatten sich jeden Monat bei den Behörden zu melden, um zu bestätigen, dass sie im Ort blieben. "Russlanddeutsche", sagt Krieger, "wurden zu Personen des minderen Rechts und mussten viele Diskriminierungen über sich ergehen lassen."

Dem Historiker zufolge nahm die Behandlung der Russlanddeutschen "genozidale Züge" an. 350000 von ihnen mussten in die sogenannte Arbeitsarmee – Lager, in denen sie unter menschenunwürdigen Bedingungen Schwerstarbeit verrichten mussten. Mein Vater kam mit 19 für fünf Jahre in eines dieser Lager.

Etwa 80000 Menschen sind dort gestorben. Darunter auch Frauen, so Krieger: "Bei keiner anderen Ethnie in der Sowjetunion, die ebenfalls Schikanen ausgesetzt war, mussten die Frauen Zwangsarbeit in einem Lager verrichten, bei Russlanddeutschen schon." Viele Kinder, die so zu Sozialwaisen wurden, kamen in Heime, wurden zur Adoption freigegeben und erhielten neue Namen, womit sie für ihre deutschen Verwandten oft unauffindbar wurden. Für die harte Behandlung der russlanddeutschen Frauen sieht Krieger mögliche Rachegefühle verantwortlich. Auch in der sowjetischen Zivilbevölkerung herrschte Wut gegenüber den Russlanddeutschen. Sie standen quasi stellvertretend für die Nazis, deren Vernichtungsfeldzug etwa 25 Millionen Sowjets zum Opfer fielen.

Erst im Dezember 1955, zwei Jahre nach Stalins Tod, wurde der Sondersiedler-Status für die Russlanddeutschen aufgehoben. Sie konnten sich wieder frei im Land bewegen. Nur: In ihre Heimatorte durften sie nicht zurückkehren.

Erst 1991, 50 Jahre nach der Deportation, hat die sowjetische Regierung die Russlanddeutschen öffentlich rehabilitiert. "Aber materielle oder territoriale Wiedergutmachung fand nicht statt", sagt der Historiker. Immer noch verhält sich Russland, das sich als Nachfolgestaat der Sowjetunion versteht, sehr zurückhaltend, wenn es um das Schicksal der Russlanddeutschen geht. "Bis jetzt gibt es keine Hinweise und Denkmäler dort, wo es Arbeitslager gab", bedauert Krieger.

Keine Entschuldigung

Problematisch findet er auch, dass die Archive aus der Sowjetzeit für ihn und andere Historiker in Russland kaum zugänglich sind. Auf eine Entschuldigung für das erlittene Unrecht warten die Russlanddeutschen bis heute vergeblich. "Das passt nicht in das Narrativ eines Landes, in dem Deutsche Täter sind. Und dann kommen da Deutsche und sagen, sie sind Opfer."

Deutschland hat das sogenannte Kriegsfolgenschicksal der Russlanddeutschen anerkannt und eine gesetzliche Grundlage für deren Aufnahme geschaffen. Seit Ende der 1980er Jahren konnten dadurch über 2,5 Millionen Russlanddeutsche und deren Angehörige nach Deutschland auswandern. Auch meine Familie und ich leben seit fast 30 Jahren hier.

Dass der Ort meiner Kindheit und Jugend nicht in Westsibirien, sondern in der Ukraine liegt, verdanke ich der Tatsache, dass mein Vater Ende der 1950er Jahre in die Ukraine zurückkehrte und sich ein paar Hundert Kilometer entfernt von der alten Heimat niederließ. Als er den einstigen Wohnort besuchte, kam er von dort mit Onkel Josefs Regal zurück, die früheren ukrainischen Nachbarn wollten es so.

Damals galt mein Onkel als verschollen. Erst viel später erfuhr mein Vater durch Nachforschungen, dass sein Bruder längst tot war. Die näheren Umstände seines letzten Lebensjahres kennen wir nicht. Aber zumindest sein Regal nahm wieder einen würdigen Platz in unserer Wohnung ein. Bei unserer Ausreise nach Deutschland mussten wir es dann erneut zurücklassen, diesmal bei den Schwiegereltern meiner Schwester.

Und irgendwann packte es mich: Ich wollte Onkel Josefs Regal wieder dort haben, wo es hingehört – in meiner Familie. Mit Hilfe eines ukrainischen Freundes gelang es mir. Nun steht unsere Etazherka im Zimmer meiner Kinder. Und ab und an gibt es ein bisschen Ärger bei uns, wenn sich dort mal wieder die CDs und Heftchen ungeordnet stapeln. Viel Leben im Hause Schindler – und mittendrin Onkel Josefs Regal.


Ella Schindler, Magazin-Redakteurin: Ich werde meinen Kindern davon erzählen, was Russlanddeutschen widerfahren ist. Es darf aber keine Privatangelegenheit bleiben, das Schicksal dieser Volksgruppe gehört in den Schulunterricht in Deutschland und in allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Denn es ist beides – ein Stück deutscher wie sowjetischer Geschichte.

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