Javier Sebastiáns „Der Radfahrer von Tschernobyl“

25.7.2012, 00:00 Uhr
Javier Sebastiáns „Der Radfahrer von Tschernobyl“

© Wagenbach Verlag

Die Katastrophe ist bekannt. 1986 explodierte das Atomkraftwerk in Tschernobyl. Die Ursachen sind es mittlerweile auch. Oder doch nicht? Hatten westliche Geheimdienste ihre Hände im Spiel? Was wurde vertuscht gegenüber der Bevölkerung? Wie geht es denen, die damals geboren wurden, heute? All diese Fragen greift der Spanier Javier Sebastián in seinem fünften Roman auf.

Das klingt nach gut recherchiertem Sachbuch. Ist es aber nicht. „Der Radfahrer von Tschernobyl“ fesselt mit einer gelungenen Story, die mit vordergründig sachlichem Ton Schicksale schildert, die unvorstellbar scheinen. In Prypjat, dem Ort nahe dem Katastrophenreaktor, der weiträumig evakuiert wurde, hausen nämlich eine Handvoll Überlebender, die nicht vernünftig reagieren wollen: Was sollen sie in der Fremde, ihre Familien stammen von hier. Sie hausen in ausgeplünderten Wohnungen, suchen sich Klamotten, bilden eine Art Gemeinderat und bauen Zwiebeln an — wenn man sie ein paar Tage in Wasser einweicht, erreicht der Cäsium-Wert angeblich ein verträgliches Maß, heißt es.

Wasja ist ihr Wohltäter. Es gab ihn wirklich. Wassili Nesterenko (gestorben 2008) war einst hochgelobter Wissenschaftler und Direktor des Instituts für Atomenergie, wurde von den Sowjets ins Krisengebiet beordert, um direkt über den glühenden Reaktor zu fliegen, um die Lage zu ergründen, um die medizinische Versorgung der Kinder zu organisieren.

Doch er wollte nicht mehr die Lügen verbreiten, mit denen die Offiziellen die Bevölkerung täuschten, und gründete das unabhängige Strahleninstitut Belrad. Das ist der rote Faden des Romans: Kinder sind in Gefahr, obwohl Wasja ihnen Mittel gegen die Strahlenkrankheit verschreibt, er kämpft gegen die offiziellen Berichte, die falsche Strahlenwerte ausweisen. Im Roman setzt sich Wasja ab, wird einer der gespenstischen Bewohner von Prypjat. Er versteht die, die hier nicht weg wollen und erkundet den Ort auf seinem alten Fahrrad.

Sebastián hat all dies höchst raffiniert in eine Rahmenhandlung eingebaut, in der die Hilfslosigkeit greifbar wird, mit der westliche Beobachter der Situation gegenüberstehen. Der spanische Ich-Erzähler gehört der Wissenschaftler-Kommission an, die über Kilo, Meter und andere Einheiten wacht und sich in Paris regelmäßig trifft. Zufällig trifft er auf Wasja, der offenbar ausgesetzt wurde in einem Fast-Food-Restaurant. Er hatte sich schließlich doch von Prypjat nach Paris abgesetzt, auf der Flucht vor den Geheimdiensten, denn er wollte die Wahrheit über die Verseuchungen ans Licht bringen.

Wie der geschwächte, schwer durchschaubare Fremde allmählich ein Freund wird, wie der spanische Wissenschaftler der verworrenen Geschichte auf den Grund kommt und der Autor gleichzeitig unbequeme Wahrheiten und die fantastische Erzählung verquickt, ist absolut lesenswert. „Der Radfahrer von Tschernobyl“ erlaubt einen neuen Blick auf Tschernobyl. Den von innen. Der Kniff liegt in der Personalisierung. Man kann die erschütternde Lage der Bewohner von Prypjat genauso nachvollziehen, wie man ihren makabren Humor und die gruppen-internen Hakeleien mitbekommt.

Javier Sebastián hat auch in früheren Büchern die Verquickung von Fakten und Fiktion zum Prinzip erhoben. In diesem ersten auf Deutsch erscheinenden Roman flicht er Protokollmitschriften der Katastropheneinsätze, Kochrezepte für die Betroffenen, Weblinks und Zeitungsberichte ein und verweist sogar mit Fußnoten auf die Quellen. Das macht die episodenhaft erzählte Geschichte noch wesentlich brisanter, als sie durch seine gelungene Konstruktion sowieso schon wäre.

Javier Sebastián: Der Radfahrer von Tschernobyl. Roman, aus dem Spanischen von Anja Lutter. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 224 Seiten, 19,90 Euro.
 

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