Als hätte die Welt noch nie gerockt

Kommentar zum ESC 2021: Als hätte die Welt noch nie gerockt

23.5.2021, 08:09 Uhr
Die Gewinner des ESC 2021: Die italienische Band Måneskin rufen zum Anderssein auf.

© Soeren Stache, dpa Die Gewinner des ESC 2021: Die italienische Band Måneskin rufen zum Anderssein auf.

War das jetzt ein Umbruch? Die menschgewordene Kommentatorenmaschine des Eurovision Song Contest in Form von Peter Urban sah ihn zumindest kurz vor ein Uhr Sonntagmorgens gekommen. Die italienische Band Måneskin gewann in diesem Moment den Musik-Wettbewerb in Rotterdam souverän. Dank der Stimmen des Publikums vor den Bildschirmen.

Diese Musik aus Rom, sie würde ja gerade die junge Generation ansprechen, sagte Urban, das müsse es sein. Spätestens hier wird klar: Neil Young hatte gelogen, als er einst sang: "Rock’n’Roll will never die." Zumindest vor dem inneren Auge sah man da den Weihrauch in der Halle von Rotterdam als letzte Ehre aufsteigen. Aber vielleicht ist es ja doch noch nicht zu spät für den Rock?

Gebete anderer Art hatten zuvor Gjon’s Tears aus der Schweiz und Barbara Pravi aus Frankreich in den Himmel geschickt. Nach der Auszählung der Jury-Stimmen lagen die späteren Gewinner nämlich noch im Mittelfeld und sie deutlich auf den vorderen Plätzen. Vermutlich hätte das in den Vorjahren mit den Publikumsstimmen auch für den Sieg gereicht, waren ihre Songs doch typisches Material für den Wettbewerb.

Bei den Buchmachern, die beim Eurovision Song Contest jedes Mal scheinbar zu Urban Opinion Leadern werden, standen die Schweiz und Frankreich sowieso hoch im Kurs. Aber eben auch Italien. Weshalb der Ausgang des Abends gar nicht so eine große Überraschung noch ein Umbruch war.

Verlass war zudem wieder auf das schlechte Abschneiden des deutschen Beitrags. Für den harmlosen Feelgood-Song "I don’t feel hate" von Jendrik Sigwart gab es drei Punkte. Zwei von der österreichischen Jury und einen von Rumänien. Mehr nicht. Beim Eurovision Song Contest führen zwei Wege zum Erfolg: Drama oder Ironie. Möglichst mit Rauchschwaden oder Feuerwerk untermalt. Bei Sigwart stand eine Frau ungelenk im Kostüm einer großen Hand auf der Bühne. Das war am Ende der vorletzte Platz.


Deutschland wieder Vorletzter beim ESC 2021


Nach einem Jahr Pause durch die Pandemie hatte sich nicht viel beim Eurovision Song Contest verändert. Jeder zweite Beitrag bestand auf plastischer Popmusik, aufgepumpt mit Beats von der Kirmes. Einen der spannendsten Beiträge des Abends lieferte die ukrainische Band Go_A mit ihrem Electronica-Folk. Zumindest eine der wenigen Nummern, die Musik noch ernstnahm und nicht im totalen Drama absoff.

Ansonsten mühten sich die Macher um Normalität. Die 3500 Zuschauer in der Halle hatten zuvor alle einen Corona-Test machen müssen, durften ohne Masken auf ihren Plätzen sitzen. Auch Abstandsregeln galten für den Abend nicht. Dass diese Normalität weiterhin in weiten Teilen Europas die Ausnahme ist und niemand weiß, wann sie wieder für alle besteht, bleibt die große und schmerzliche Erkenntnis des Abends.

Weit weniger erkenntnisreich: der Auftritt des US-Rappers Flo Rida beim Beitrag von San Marino. Die bunte Unterhaltungsshow strahlt mehr und mehr über die Grenzen Europas hinweg. Was auch neben einem Netflix-Film und der Teilnahme von Australien daran liegt, dass der Sound so international, austauschbar und gefällig daherkommt. Meint: Viel hörte sich einfach wie US-Popmusik aus dem Radio an. Das zeichnete sich schon seit Jahre ab.

Ironischerweise handelt ausgerechnet der Song der Gewinner des Abends davon, dass man sich nicht den Konventionen und Erwartungen beugen solle. Måneskin rufen zum Anderssein auf. Was zu ihrem Rock hervorragend passt, der musikalisch zu den besten Beiträgen des Abends gehörte. Allerdings haben die Gesten des Rock bereits vor Jahrzehnten ihr rebellisches Element verloren. Willkommen im großen Unterhaltungszirkus.

Inklusive Diskussion auf den sozialen Medien über einen möglichen Drogenkonsum von Sänger Damiano David während der Punktevergabe. Er beugte sich da mit dem Kopf nach vorne, fast auf den Tisch. Live. Nur verdeckt von einem Getränkekühler. Auf der Pressekonferenz nach dem Event hieß es jedoch: Es habe nur jemand aus der Band ein Glas zerbrochen. "Ich nehme keine Drogen. Bitte sagt das nicht." Jetzt ist er also auch noch höflich, dieser Rock’n’Roll.

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