Moral und Ballerspiele: Das sagt ein Forscher dazu

30.3.2020, 16:43 Uhr
In "Grand Theft Auto" kann man sich relativ frei bewegen, soll aber irgendwann auch gewalttätig werden. Eine bewusst eingebaute Moral-Prüfung?

© Bild: Rocket North In "Grand Theft Auto" kann man sich relativ frei bewegen, soll aber irgendwann auch gewalttätig werden. Eine bewusst eingebaute Moral-Prüfung?

Herr Ostritsch, Sie sind Philosoph und Literaturwissenschaftler. Wie findet man von dort zu Computerspielen?

Sebastian Ostritsch: Auf das Thema "Computerspiele und Philosophie" bin ich sehr früh gestoßen. An der Universität Stuttgart habe ich vor Jahren in einem interdisziplinären Forschungsprojekt gearbeitet, in dem es um Simulationstechnologie in den Wissenschaften ging. Über diesen Umweg stieß ich eher zufällig auf Computerspiele, bin dann aber drangeblieben. Kürzlich ist eine Forschungsstelle zu diesem Thema bewilligt worden. Ich darf nun drei Jahre lang an der Uni Stuttgart zum Thema "Ethik der Computerspiele" forschen.

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Moral und Ballerspiele: Das sagt ein Forscher dazu

© Foto: Universität Stuttgart

Ostritsch: Ja, ich bin selbst Gamer und mit Computerspielen aufgewachsen. Zwischendrin gab es mal eine längere Pause, weil andere Dinge interessanter waren. Als Student habe ich dann zum Computerspiel zurück gefunden und spiele auch heute noch leidenschaftlich gerne.

Was ist Ihre erste Erinnerung an Computerspiele?

Ostritsch: Tatsächlich der Atari 520 ST meines Bruders, auf dem noch ganz alte Spiele wie "Dungeon Master" und "Winter Olympiad 88" aus den 1980er Jahren drauf waren. Bei mir selbst war es dann in den 90er Jahren ein 486er, auf dem ich die heutigen Klassiker wie "Doom" und "Monkey Island" erlebt habe.

Was sucht der Philosoph im Computerspiel?

Ostritsch: Wie heißt es so schön: Dem Philosoph ist nichts zu doof … (lacht) Im Ernst: Philosophen beschäftigen sich schon lange mit Filmen und Literatur, das gilt als völlig seriös und fällt in den Bereich der Kunstphilosophie oder Ästhetik. Da stellen wir uns Fragen wie "Was macht ein Kunstwerk zu einem Kunstwerk?", "Was unterscheidet gute Kunstwerke von schlechten?" und "Können wir anhand von Kunstwerken zu Erkenntnissen gelangen und etwas über die Realität lernen?", "Transportieren sie bestimmte moralische Werte und Weltanschauungen oder sind sie ganz in sich verkapselt und haben nichts mit der sonstigen Wirklichkeit zu tun?". Das sind klassische philosophische Fragen, die es schon immer im Bezug auf Kunstwerke aller Art gab. Man kann sie ohne weiteres auf Computerspiele übertragen.

Sie haben "Doom" angesprochen, einen der berühmtesten 3-D-Ego-Shooter. In dem Spiel von 1993 ist der Spieler der letzte Überlebende in einer postapokalyptischen Welt. Es geht ums nackte Überleben, man schießt auf alles, was sich bewegt ...

Ostritsch: "Doom" war genreprägend. Das, was die Nichtspieler damals am meisten schockiert hat, war der Grad an Gewalt, der für diese Zeit unglaublich explizit war – auch, wenn das seinerzeit noch Pixelfigürchen waren, die da auseinanderflogen. Die Grafikentwicklung ist seither rasant fortgeschritten, so dass uns "Doom" heute gar nicht mehr so gewalttätig vorkommt. Da gibt es einen Gewöhnungseffekt. Man kann aber immer noch fragen: Was ist unmoralisch an einem Shooter wie "Doom"? Die klassische Gamerantwort wäre: Garnix. Ich schieße auf Pixel und auch das nicht mal wirklich, weil ich ja nur auf meine Maustaste drücke. Die populistische Politikerantwort wäre: "Mit solchen Spielen trainiert man das reale Töten, und wer das lange genug spielt, will das auch umsetzen". Ich halte beides für naiv.

Warum?

Ostritsch: Naja, die Politikerantwort ist ja schon empirisch widerlegt, wenn man an die Millionen von Menschen denkt, die Spiele dieser Art konsumieren und nie irgendwie auffällig werden. Die Vorstellung, dass ein psychisch gesunder Mensch Computerspiele spielt und nur deshalb durchdreht, ist in meinen Augen realitätsfremd. Da sind Computerspiele ein typischer Sündenbock. Andererseits ist aber auch die Gamerposition, von wegen "Ist ja nur ein Spiel", nicht ganz überzeugend. Bei "Doom" würde ich das noch eher glauben, weil wir uns hier in einem außerirdischen Horror-/Science-Fiction-Szenario bewegen. Es gibt aber auch Spiele, bei denen wir das nicht sagen können – etwa bei "KZ Manager" oder einem Vergewaltigungssimulator. So etwas gibt es tatsächlich, da findet sich dann auch keinerlei mildernder Charakter mehr. Das ist plumpe Glorifizierung, die ganz offensichtlich einen beabsichtigten Bezug zur außerspielerischen Wirklichkeit setzt. Wie bei jeder Kunstform ist auch bei Games der Kontext ausschlaggebend. Wie bei Literatur und Film gilt: Man muss sich mit dem einzelnen Werk auseinandersetzen.

Ein konkretes Beispiel ist die schottische Reihe "Grand Theft Auto", ein Blockbuster, seit 1997 unglaubliche 280 Millionen mal verkauft. Der Spieler schlüpft hier in die Rolle eines Helden, der in einer fiktiven US-Großstadt eine Verbrecherkarriere startet. Im fünften Teil von 2013 gibt es einen Moment, wo man als Spieler eine Figur mit Waterboarding foltern muss.

Ostritsch: Das ist eine ethisch hochinteressante Stelle. Bis zu diesem Moment hat "GTA 5" einen sehr überspitzten und satirischen Ton, der oft übersehen wird. Das gesamte Setting dieses Spiels ist eine völlig überzeichnete Gesellschaftssatire, mit diesem ganzen Hedonismus und dieser Fixierung auf Geld, gepaart mit einer Glorifizierung von Gewalt, die hier schonungslos aufs Korn genommen wird. Und dann kommt die von Ihnen genannte Szene, in der man einen offensichtlich Unschuldigen foltern muss. Und das, so erleben es viele Spieler, macht keinen Spaß. Auch ich habe das beim Spielen so empfunden, und ich glaube: Das ist gewollt. Hier kriegt man das Gefühl, dass das Spiel ganz bewusst zu weit geht. Dem Spieler wird ein Spiegel vorgehalten: Man konsumiert in "GTA" Gewalt auf relativ leichtfertige Art, und da hinein bricht plötzlich diese reale Dimension, die dann so gar keinen Spaß macht. Das ist das Interessante: Gute Spiele müssen nicht immer Spaß machen in einem banalen Verständnis von "unterhaltsam". Spiele sollen faszinierend sein und herausfordern.

Wo verläuft da die Grenze? Was darf ein Computerspiel noch und was nicht mehr?

Ostritsch: Wie gesagt, das kann man nicht pauschal sagen. Der bloße Umstand, dass in einem Computerspiel etwa eine Vergewaltigung vorkommt, wäre für mich – ohne das Spiel zu kennen – erst mal viel zu wenig Information, um darüber zu urteilen. Es gibt genügend Filme, in denen das Thema Vergewaltigung vorkommt, da käme ja auch keiner auf die Idee, diese pauschal als unmoralisch zu verurteilen. Im Gegenteil: Es kann ein höchst moralischer Film sein, weil er mit dem Thema auf eine kluge, reflektierte Art umgeht. Das ist auch bei Computerspielen möglich.

Grand Theft Auto ist ein Open-World-Game. Es stellt uns eine fiktive Computerwelt bereit, in der wir uns als Spieler relativ frei bewegen können. Man kann in dieser Welt auch einfach nur ins Kino gehen. Nun haben uns aber zuletzt TV-Serien wie "Westworld" gezeigt: Wenn man Menschen eine Simulation zur Verfügung stellt, in der sie (vermeintlich) tun und lassen können, was sie wollen, dann läuft es fast immer auf zwei Dinge hinaus: Sie wollen vögeln und töten.

Ostritsch: Bei "GTA" lebt viel davon, dass man dort Dinge tut, die man in der Realität nicht machen soll. Das finde ich aber per se erst einmal gar nicht schlimm und auch nicht unmoralisch. Im Gegenteil: Es wäre naiv, zu denken, wir könnten uns von all diesen dunklen Seiten unserer Existenz vollständig abkoppeln. Entscheidend ist, wie wir uns damit auseinandersetzen, was wir daraus lernen. Und sei es nur, dass das Böse einen Reiz hat, für den wir nicht blind sein dürfen.

Was hat Hegel mit all dem zu tun?

Ostritsch: Alles und nichts (lacht). Nichts, weil Hegel das Phänomen Computerspiele natürlich nicht kannte. Alles, insoweit Hegel der Denker ist, dem es um das Ganze geht: Um die gesamte Wirklichkeit in all ihren Zügen, um die bloße Natur ebenso wie um Kunst, Religion, Geschichte, Wissenschaft, Recht. Ein überzeugter Hegelianer müsste heute sagen: "Ja, wir müssen auch den Gedanken des Computerspiels irgendwo in diesem System verankern können." Auch ich denke, das geht. Hegel spricht von der Sphäre des absoluten Geistes und meint damit drei menschliche Praxisfelder: Kunst, Religion und Philosophie. Das sind alles Formen, in denen sich denkende Wesen mit sich selbst beschäftigen und mit dem, was sie sind. Computerspiele können ein Format sein, in dem sich der Mensch mit sich selbst auseinandersetzt. Die spannende Frage hier lautet: Was machen Computerspiele anders als Malerei, Film oder Literatur?

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