Nürnberger Ballett: Kampf um Selbstbestimmung

15.4.2019, 12:08 Uhr
Szene aus Jirí Kyliáns für acht Tänzerinnen geschaffenem Klassiker „Falling Angels“, getanzt vom Nürnberger Ballett.

Szene aus Jirí Kyliáns für acht Tänzerinnen geschaffenem Klassiker „Falling Angels“, getanzt vom Nürnberger Ballett.

Mit Tanzlegende Jirí Kylián und dem eine Generation jüngeren Rebell Marco Goecke bietet der neue Dreiteiler diesmal den spannenden Direktvergleich zweier Meister, die sich stilistisch sichtlich nahestehen, aber in "Falling Angels" und "Thin Skin" ganz konträre Gefühlswelten entwerfen. Als dritter steuert Ballettchef Montero seine nicht minder aufwühlende Kreation "M" bei.

Um Geschlechterrollen, Männlichkeit und Weiblichkeit geht es an diesem Abend, doch eigentlich geht es um den Menschen, um seine Ängste und Verletzlichkeit, aber auch um seine Kraft und Stärke. Kyliáns Stück "Falling Angels" für acht Tänzerinnen, 1989 uraufgeführt und längst ein Klassiker, besticht zudem durch den feinen Humor, mit dem sich die in kurze schwarze Trikots gekleideten Tänzerinnen dem irrwitzigen Tempo von Steve Reichs hochkomplexen Trommelrhythmen immer wieder entziehen.

"Falling Angels" mit atemlosem Tempo

Dass diese "fallenden Engel" nach Freiheit und Autonomie streben, suggeriert gleich der Beginn, wenn sie sich lautlos aus dem Dunkel nach vorn ins Licht schleichen. Die ersten Trommelschläge steigern sich im Nu zur perkussiven Tour-de-Force, der Kylián eine ebenso dynamisches wie hochpräzises tänzerisches Vokabular entgegensetzt.

Mal zu acht oder getrennt in Beobachterinnen und Vorkämpferinnen, werden Gruppenzwang und Ausbruch thematisiert, wechselt das atemlose Tempo mit Bewegungen fast in Zeitlupe und weit ausholenden Schritten im Rückwärtsgang. Als wollten sie aus ihrer Haut heraus, zupfen die Tänzerinnen an ihren Trikots und rahmen mit ihren Armen Kopf und Oberkörper ein. Virtuos, mitreißend und wunderbar spielerisch lotet Kylián hier den ewigen Konflikt zwischen Zugehörigkeit und Unabhängigkeit aus.

Choreograf mit Panikattacken

Das hohe Tempo, die starke Betonung von Armen und Händen kennzeichnen auch Marco Goeckes Stück "Thin Skin", das allerdings ungleich drängender wirkt. Der vom Stuttgarter Ballett nach Hannover wechselnde Choreograf hat sich stets zu seinen Panickattacken bekannt. "Thin Skin" ist wie ein Reflex darauf, die mit Tattoos bedruckten transparenten Oberteile der vier Tänzerinnen und sechs Tänzer symbolisieren die Dünnhäutigkeit des Menschen. Und die raue, so empfindsame wie kraftvolle Stimme von Punk-Ikone Patti Smith verleiht der Dringlichkeit, mit der sich hier das Innerste Bahn bricht, eine Wucht, die unter die Haut geht.

In Soli, Duos und Gruppen, mit rasend schnell wirbelnden Armen und hochfliegenden Beinschwüngen entwirft Goecke Seelenlandschaften. Zitternde Hände werden vor den Mund gepresst, fahren fiebrig-nervös den Körper entlang, die Begegnungen schwanken zwischen Abwehr und der Suche nach Erlösung. Einmal tritt eine Tänzerin hinter den Mann, betastet sanft seinen Oberkörper, doch die folgende Umarmung mündet im Würgegriff. "Thin Skin" ist der herausforderndste Beitrag des Abends – verstörend und verzaubernd.

Goyo Monteros "M": Wilde, kraftvolle Schönheit

Auch Goyo Montero hält das Tempo in seinem Männerbildern nachforschenden Stück "M" hoch. Über eine Rutsche gleiten die neun Tänzer auf die Bühne, eine Metapher für die Geburt, für die Owen Belton einen Soundtrack voller Kinderlachen und Spielplatzgeräusche geschaffen hat. Dann beginnt ein Kräftemessen, das davon erzählt, wie Rollenerwartungen Männer/Menschen in die Enge drängen, ihnen keine Wahl lassen, wie sie sein wollen. Wer der Geschlechterrolle nicht gehorcht, wird ausgestoßen und drangsaliert.

Angelo Alberto hat dafür sandfarbene Kostüme geschaffen, die auf Sterotype verweisen, aber auch auf die "Abweichler". Wirken die Kämpfe zunächst spielerisch, dominiert bald rohe Aggressivität, eindringlich symbolisiert, wenn die Horde den Außenseiter mit stummen Schreien wütend anklagt. Nach einem erschöpfenden Tanz zum Flamencolied von Miguel Poveda beginnt die Häutung, lässt Montero die Tänzer sich haltend und tragend zusammenfinden.

Begeistert gefeierter Abend

Der Kampf ist vorbei, "Looking for a kiss", bringt Lou Reed die Sehnsucht aller Menschen nach Liebe auf den Punkt. Seinem Hang zum Pathos, zur allzu deutlichen Bildhaftigkeit entgeht Montero am Ende zwar nicht, doch choreografisch ist "M" mit seinen akrobatischen Sprüngen und Drehungen von wilder, kraftvoller Schönheit. Der größte Respekt des begeistert gefeierten Abends gebührt aber Monteros unglaublich flexibler Compagnie, die einmal mehr ihre Erst-Liga-Qualität beweist.

Infos zu den Vorstellungen:

21., 27. April, 3., 10., 17., 20., 25., 29., 31. Mai; Karten: 09 11/216 27 77 oder unter Staatstheater Nürnberg.

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