Revolutionäres Getöse

6.11.2017, 19:15 Uhr

Das Orchester ist nicht, wie man beim Betrachten des Fotos auf der ersten Seite im Programmheft vermuten könnte, in Schieflage, sondern zeigt sich derzeit von seiner allerbesten Seite und hat sichtlich Vergnügen mit dem Dirigenten, der gleichzeitig auch als Klavier-Solist auftrat. Neller ist vor knapp zwei Wochen erst 31 Jahre alt geworden und hat alle drei Werke auswendig im Kopf und so unglaublich viel Übersicht, dass es schon fast unheimlich ist.

"Die Ouvertüre wird recht laut und lärmend sein, besitzt aber, da ich sie ohne Liebe geschrieben habe, keinen künstlerischen Wert." So hat sich Peter Tschaikowsky über seine "Ouverture solennelle 1812" (op. 9) geäußert, die von einem russischen Choral, der Zarenhymne und der Marseillaise durchzogen ist und bei der das Orchester auch gleich zeigen kann, was ein voller Klang ist und wie man Präzision buchstabiert.

Mal mit Stab, mal ohne

Viel Kriegsgetöse, bei dem Nellers Dirigat extrem verbindlich ist und dennoch Freiräume lässt. Der gebürtige Russe schlägt nicht durch, sondern zeigt Bögen, setzt Ankerpunkte und modelliert den Klang scheinbar spielerisch mal mit Stab und mal ohne. Die Symphoniker klingen im streng abgesteckten Rahmen frei und offen und erreichen so einen überragend flexiblen Klang.

"Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo", ist ein Zitat von Wolfgang Amadeus Mozart und sein Konzert für Klavier und Orchester Nr. 25 C-Dur (KV 503) zählt zu denen, die nicht "von alleine laufen", sondern dem Pianisten viel abverlangen.

In flottem Tempo legt Sergey Neller los. Die Symphoniker sind mit einem Ohr natürlich beim Solisten und ungeheuer aufmerksam. Es wird in eine Richtung gedacht, gemeinsam an einem Strang gezogen und Musik gemacht. Neller spielt den voluminös-strahlenden C-Dur-Klangrausch genussvoll aus und vor den mächtigen Hell-/Dunkel-Kontrasten, die er erzeugt, gewinnen die unglaublich delikat gefeilten Details hohe Individualität. Denn das Geheimnis liegt in der rhythmischen und harmonischen Verarbeitung, weil das Kopfthema eigentlich nur aus einer Reihe simpler Akkordfolgen besteht.

Lenin gewidmete Symphonie

Bevor die 12. Symphonie d-Moll (op. 112) von Dimitri Schostakowitsch erklingt, wendet sich Sergey Neller ans Publikum und stellt klar, dass nun für ihn und das Orchester diese mächtige und Lenin gewidmete Symphonie im Gedenken an die vielen ums Leben Gekommenen und Getöteten der Revolution im russischen Herbst 1917 steht. Es soll also auf keinen Fall eine Glorifizierung dieser epochalen Umwälzungen dargestellt werden, und unter diesem Eindruck klingt dieses an stampfende und böllernde Filmmusik erinnernde Werk noch bedrückender.

Die aggressiven Rhythmen, die roboterhaften Ostinati und die fauchenden Klänge fesseln ebenso wie die extrem ruhigen und getragenen Teile mit ihren zahlreichen solistischen Stellen. Dass Neller auch weiterhin alles im Griff hat, spüren nicht nur die Zuhörer in der Meistersingerhalle, sondern auch das Orchester zeigt sich mit langer Beifallsbekundung zufrieden über die ertragreiche Arbeit mit einem exzellenten Handwerker, der mit überlegenem Verständnis glänzt und dabei dennoch eine Bescheidenheit an den Tag legt, die beeindruckt. Da hat er was ganz Schönes angerichtet!

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