Schreiben als Befreiung

15.4.2019, 10:50 Uhr
Schreiben als Befreiung

© Katja Sämann

Wir begannen schnell zu gähnen, wenn Opa wieder mal anfing, vom Krieg zu erzählen. Das ist lange her, Großvater ist längst tot. Aber wenn die Rede auf ihn kommt, denken wir automatisch an das Großereignis Krieg, das sein großes Thema war. Zu Recht.

Zu Recht hat Saša Stanišic (41) ein Buch über seine Herkunft geschrieben. Es ist mit dem Jugoslawienkrieg der 1990er Jahre verbunden, in dem er mit seinen Eltern aus Visegrád, damals Jugoslawien, heute Bosnien, geflohen war. Was er als Kind sah und erlebte, prägte sich tief in sein Gemüt ein, vor allem die Übergriffe der christlichen Serben auf die muslimische Bevölkerung. Was geschieht mit einem Vierzehnjährigen, der Gewalt und Gräueltaten ausgesetzt ist, der die Heimat verliert? Mit seinem Bericht aus dieser Zeit schafft er Ordnung in seinem Leben. Zugleich lässt er noch mal seine Herkunftswelt auferstehen, um sich von ihr zu lösen. Schreiben als Befreiung.

Stanišic hat Glück gehabt. Als er mit seiner Mutter nach Heidelberg gelangte. Als er das erste Mal das Schloss sah. "Es wirkte, als sei es schon als blassrote Ruine in den Berg eingelassen worden", erinnert er sich. "Als könne es nur so und nur hier, in angenehmer Nähe zum weichen Fluss und den nun unmaskierten Gesichtszügen der alten Stadt, frei von allen Zweifeln existieren." Der Junge begreift: "Auf einmal waren auch wir uns selbstverständlich. Eine Mutter und ihr Sohn auf einem kleinen Platz in Deutschland."

In der autofiktionalen Erzählung werden komplexe Fragen abgehandelt: Gene, Ahnen und die Eltern, die Mutter muslimische Bosnierin, der Vater Serbe. Einer, der schon früh Krieg, Flucht und Neuanfang erlebt hat, muss seinen Standort in der Welt kartieren. "Ich war ein Kind des Vielvölkerstaats, Ertrag und Bekenntnis zweier einander zugeneigter Menschen, die der jugoslawische Melting Pot befreit hatte von den Zwängen unterschiedlicher Herkunft und Religion." Die Flucht gelang im letzten Moment, ein Polizist hatte seiner Mutter zugeflüstert, es drohe akute Gefahr für Leib und Leben. Kurz danach "gingen in den Bergen die ersten muslimischen Häuser in Flammen auf".

Saša Stanišic ist einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller. 2006 erschien sein Debüt "Wie der Soldat das Grammofon repariert", es wurde in 30 Sprachen übersetzt. 2014 überraschte er mit "Vor dem Fest", einer Erzählung aus der Uckermark, für die er den Leipziger Buchpreis erhielt. "Herkunft" ist sein persönlichstes Buch. Es erzählt die Geschichte eines Kriegs und einer Heimatfindung. Indes: "Jedes Zuhause ist ein zufälliges", hat er erkannt.

Stanišic kehrt manchmal nach Bosnien zurück. Dort begleitet er seine demente Großmutter zu den Orten seiner Kindheit und ist besorgt, als sie an der Tür eines Ladens rüttelt. Es ist die des Metzgers, der schon vor zehn Jahren zugemacht hat. Er erinnert sich an Feste im Garten. Und an das legendäre Fußballspiel Roter Stern Belgrad gegen Bayern München 1991, die Serben gewannen. Den Anekdoten folgen nachdenkliche Überlegungen, Glück und Schmerz blinken auf und Heimweh nach einem Land, das es nicht mehr gibt. Schließlich lässt er Tote auferstehen, indem er ihre Geschichten erzählt in dieser Welt, "in der Flüsse sprechen und Urgroßeltern ewig leben".

Das Buch ist anrührend, weil es so ehrlich ist, gerade in den Erinnerungen ans neue Land. Wo er als Teenager bangen musste um seine Aufenthaltserlaubnis, und die er plötzlich bekam. Eine Erlösung, weil er angefangen hatte, auf Deutsch zu schreiben. "Weil ich es kann!"

Saša Stanišic: "Herkunft". Luchterhand, München, 360 Seiten, 22 Euro.

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