Spannendes Psychogramm: "Weißer weißer Tag"

20.2.2020, 14:20 Uhr
Spannendes Psychogramm:

© Foto: Arsenal

Zu Beginn folgt die Kamera einem Wagen, der über eine nebelverhangene einsame Landstraße fährt, bis er plötzlich die Leitplanke durchbricht und in den unsichtbaren Abgrund stürzt. Die nächste lange Einstellung zeigt zwei Stallungen im Wechsel der Jahreszeiten, erst allmählich wird man gewahr, wie sich die Gebäude verändern, ein Wohnhaus entsteht.

Gleich in den ersten zehn Minuten gelingt es dem isländischen Regisseur Hlynur Pálmason auf genial einfache und zugleich überaus effektive Weise, die Essenz seiner Geschichte zusammenzufassen und eine latent unheilvolle Atmosphäre zu produzieren, die bis zum Schluss anhalten wird.

Im Zentrum von "Weißer weißer Tag" steht der wortkarge Polizist Ingimundur (Ingvar Sigurðsson), dessen Frau in dem Wagen saß. Seitdem sind einige Jahre vergangen, noch immer ist der Witwer vom Dienst suspendiert. Mit dem Umbau der Stallungen für seine Tochter und deren Familie hat er versucht, sich von seiner Trauer abzulenken. Größter Trost ist ihm seine achtjährige Enkelin Salka (Ída Mekkín Hlynsdóttir), um die er sich liebevollst kümmert, mit der er sogar wieder lachen kann.

Doch der Schmerz hat sich in Ingimundur festgenagt. Wie sehr es in ihm brodelt, zeigt schon eine Szene bei seinem Psychotherapeuten, auf dessen (ziemlich dämliche) Fragen er einsilbig und mit kaum unterdrückter Wut antwortet. Als seine Tochter ihm einen Karton mit den restlichen Sachen der Verstorbenen bringt, entdeckt er darin Filmaufnahmen, die beweisen, dass seine Frau ihn betrogen hat. Er hatte das vage geahnt. Doch nach der Bestätigung seines Verdachts rastet Ingimundur, den der isländische Filmstar Sigurðsson großartig als tief versehrte Seele und tickende Zeitbombe zugleich spielt, aus.

Pálmason beweist mit seinem zweiten Langfilm sein großartiges Gespür für Spannungsaufbau auch auf der visuellen Ebene. Mit Kamerafrau Maria von Hausswolff erzählt er von dem inneren Aufruhr des Protagonisten in distanzierten Bildern – mit statischen Kameraeinstellungen, nur ausschnitthaft gezeigten Innenräumen und fast surrealen Bildmontagen. Immer wieder brechen Szenen abrupt ab wie Schlaglichter, die Einblick geben in die Einsamkeit und innere Isolation Ingimundurs. Die karge isländische Natur dient dabei auch als Seelenlandschaft.

Einmal wünscht sich Salka von ihrem Opa eine Schauergeschichte zur Guten Nacht. Erst schmunzelt man, so absurd gruselig ist seine Fantasie, doch dann wird einem bewusst, welche Dämonen in diesem Mann wüten müssen. Und wenn Ingimundur am Ende verletzt und blutend seine Enkelin durch einen dunklen Tunnel trägt, bleibt lange offen, ob sie das Licht erreichen werden. (109 Min.)

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