Staatstheater Nürnberg: Die Oper, die keiner sieht

13.4.2021, 10:59 Uhr
Staatstheater Nürnberg: Die Oper, die keiner sieht

© David Klumpp / Staatstheater Nürnberg

Es ist alles ganz anders an diesem Tag. Und doch wird es noch lange so bleiben. Im Staatstheater Nürnberg ist die Generalprobe der Oper "The Rape of Lucretia" von Benjamin Britten angesetzt und es soll auch gleichzeitig so etwas wie eine verkappte Premiere sein.

Ohne Publikum freilich, und nach der ersten vollständigen Aufführung wird die Inszenierung gleich wieder eingemottet. Wann sie das Licht der Öffentlichkeit erblicken wird, bleibt ungewiss. Und doch gehen an diesem Nachmittag alle so ernsthaft ans Werk, als wäre alles normal.

"Wir spielen für Niemanden"

Ist es aber nicht. Wenn man zum Bühneneingang des Theaters geht, kommt man an einem Plakat vorbei, auf dem ein Zitat aus Verdis "Don Carlos" steht: "Ihr singt so sorglos, wie lange habe ich das nicht getan." Das ist so wahr wie traurig hier an dem Haus, das seit Monaten geschlossen ist.

Also stemmt man sich trotzig gegen die widrige Zeit. "Wir spielen zwar für Niemanden," sagt Staatsintendant Jens-Daniel Herzog, "aber es ist doch immerhin eine Botschaft für uns selber: es gibt uns noch."

Es wird also doch noch gesungen, keineswegs sorglos, und auch wenn es nur wenige hören. "Wir müssen in Form bleiben, sonst verlieren wir an Kraft und Exzellenz," meint Herzog dann und zieht einen bodenständigen Vergleich heran: "Wir sind eben ein Haus mit Hochleistungssportlern."


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Aber ganz so wuselig wie etwa auf dem Fußballrasen, wo sich jubelnde Spieler ungeniert in die Arme fallen, geht es im Theater dann doch nicht zu.

Im Gegenteil: hier, das wird man im Verlauf dieses Nachmittags erstaunt feststellen, gibt es nahezu keine künstlerischen Freiheiten außerhalb der Rollen auf den Bühnen mehr; hier ist alles penibel geregelt, getaktet, dokumentiert, und bevor es wirklich anhebt, wird man sich vorkommen wie in einem Krankenhaus.

Wer am Theater arbeitet, hat momentan einen der sichersten Arbeitsplätze, die man sich in dieser Pandemie vorstellen kann.

Der Weg in die Kantine ist umständlich, weil er einer Einbahnregelung folgt. Dort in den Räumen, die sonst erschöpfte, beseelte Sänger, Schauspieler, Bühnenarbeiter in zwanglosen Ruhepausen sehen, herrscht jetzt Stille.

Erfolgreiches Testkonzept

Im "Raucherbereich" steht ein Tisch, hinter dem eine Frau mit Maske und Handschuhen kleine Plastiktütchen austeilt und auf einer Liste die langsam eintreffenden Frauen und Männer abhakt, die zu einer ganz bestimmten Zeit erscheinen müssen.

Durch die Glaswand sieht man die Teststation, kann die kurze Prozedur mit dem Wattestäbchen beobachten, bis man selber dran ist. Denn ohne Negativ-Ergebnis kommt hier keiner rein.

Auf das wartet man im Raum mit der Kantinen-Theke; auch die ist seit langem verwaist, alle Theatermenschen müssen sich ihre Verpflegung selber mitbringen. Ein Musiker mit mächtigem Bass im Gepäck steht am Fenster und setzt sich erst wieder in Bewegung, als ihm die Nachricht "K 82 negativ" zugerufen wird.

Was hier geschieht und in einem Kunstbetrieb einigermaßen befremdlich anmutet, hat ein ausgeklügeltes System, auf das Jens-Daniel Herzog so stolz ist, dass er es auch gleich als Modell weiterempfiehlt.

Nur ein positiver Test

Hilfe zur Selbsthilfe nennt er es, denn tatsächlich arbeitet da kein medizinisches Fachpersonal, es sind alles Angestellte des Theaters, die das Testen ihrer Kollegen freiwillig durchführen (sogar Chefdramaturg Georg Holzer – wirklich ein Doktor, aber eben kein Arzt – hat sich den Schutzkittel übergestreift und wartet mit dem Wattestäbchen).

Zusammen mit Professor Michael Schroth, Chefarzt an der Cnopf’schen Kinderklinik in Nürnberg, hat das Theater einen perfekt funktionierenden Plan ausgearbeitet, der es gestattet, autark in der Corona-Zeit zu be- und überstehen.


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Für April sind über 3700 Tests angesetzt, jeder, der auch nur entfernt etwas zu tun hat mit einer Produktion, die geprobt wird (sieben sind es gerade insgesamt), ist jedesmal dazu verpflichtet.

Das hat sich seit Monaten bewährt: Es gab seit Jahresbeginn nur einen positiven Fall und der wurde sofort ans Krankenhaus verwiesen, damit erst gar kein Kontakt mit anderen Kollegen zustande kam. Nebenbei gelten natürlich in allen Gebäuden Maskenpflicht und Abstandsregeln.

Die Kunst retten

"Weil wir das Leben lieben", steht auf der Rückseite von Michael Schroths Visitenkarte, und weil der Professor auch ein Kunstliebhaber ist (nicht nur als "Theaterarzt" wird er sich später die Generalprobe in aller Ruhe gönnen), war und ist ihm die Situation hier so wichtig – weil eben Leben und Kunst gerettet werden können.

Schroth weiß natürlich um die zugespitzte Lage in dieser dritten Welle, die nur bewältigt werden kann, wenn jeder Mensch seinen Beitrag dazu leistet: "Die Kliniken, deren Intensivstationen schon bald wieder überfüllt sein werden, sind auf die Unterstützung aller angewiesen", sagt er und fragt sich auch gleich, warum dieses Test-System, das sich am Nürnberger Theater gerade so bewährt, und das er einen "Selbstläufer" nennt, nicht auch von anderen Betrieben angewendet wird.

Immer noch wehrt sich die Wirtschaft gegen derartige Prozeduren, dabei wäre es, so Schroth, denkbar einfach, regelmäßig und ohne großen Aufwand in Firmen, wo die Mitarbeiter auf engstem Raum zusammen sind, "sicher zu gehen".

Nach entsprechenden Schulungen wäre jeder in der Lage, den Kollegen und damit dem ganzen Gesundheitssystem nützlich zu sein. Das lange Warten auf Direktiven aus der Politik mache keinen Sinn und verschlimmere die Situation von Tag zu Tag mehr: "Wir müssen uns am eigenen Schopf aus der Krise ziehen."


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Der letzte Musiker, es ist "eine Geige", ist jetzt durch und auf dem Weg von der Kantinen-Klinik in den Orchestergraben, der für diese Kammeroper mit Mitgliedern der Staatsphilharmonie auch nur schütter besetzt ist.

Im Opernhaus, wo mit dem künstlerischen Personal gerade mal knapp 40 Personen versammelt sind (von der Inspizienz über die Bühnenbildnerin und die Dramaturgen bis zu wenigen Bühnenarbeitern), geht pünktlich um 15 Uhr wie bei einer richtigen Vorstellung das Licht aus.

Oper auf Abstand

Regisseur Jens-Daniel Herzog sitzt jetzt auch dort irgendwo im Dunkeln, er wird bei dem Durchlauf nicht mehr eingreifen: das Stück muss stehen als wäre morgen tatsächlich Premiere.

Herzog hat die Inszenierung schon vor gut einem Jahr konzipiert: auf einem Quadrat agieren die Sängerinnen und Sänger längst in gebührendem Abstand. Corona hat auch die Ästhetik des Theaters fest im Griff.


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Ein alter Aberglaube verbietet Applaus am Ende einer Generalprobe, also bleibt es auch nach knapp zwei Stunden Oper still im Saal, wo die Beleuchtung wieder angeht und sich niemand an der Rampe dankbar verbeugt.

Herzog selber aber erscheint nochmal und seine kleine Rede an alle Beteiligten klingt wie ein Durchhalteappell: "Diese Moral und Ethik, mit der wir an unsere Sache gehen, stimmt mich hoffnungsfroh. Es schweißt uns zusammen und ich glaube, wir werden uns trotz allem auch immer gerade an diesen Moment erinnern, in dem wir unseren Beruf ausgeübt haben trotz all der widrigen Umstände."

Und dann wird endlich doch noch geklatscht.

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