Staunen über Dürer

15.8.2010, 10:11 Uhr
Staunen über Dürer

© Repros: GNM

Der Anspruch ist hoch: „Wir wollen Dürers Werk neu aufschließen“, sagt Thomas Eser von der Nürnberger Forschungsstelle. Die arbeitet international: 25 Wissenschaftler aus London, Deutschland und den USA kooperieren für das auf drei Jahre angelegte Großprojekt, bei dem jetzt Halbzeit ist. Konkret geht es darin um den jungen Dürer, also die Zeit bis 1505. Da brach der 34-Jährige zu seiner zweiten Italienreise auf, hatte schon Proportionsstudien entworfen und wohl auch die ersten Mitarbeiter in seiner Werkstatt. Er hatte bereits den heute weltberühmten Feldhasen aquarelliert, sich als christusgleicher Schöpfer selbst porträtiert und die „Apocalypse“ in Holz geschnitten.

Staunen über Dürer

Eines wollen die Forscher, die dem jungen Dürer auf der Spur sind, aber ganz bestimmt nicht: „Wir beteiligen uns nicht an Zuschreibungsschlachten, wie sie seit 150 Jahren um Dürers Werk toben“, sagt Projektleiter Daniel Hess mit Bestimmtheit und erklärt warum: „Da steht Kennermeinung gegen Kennermeinung, es geht ums Rechthaben und man kommt keinen Schritt weiter.“

„Uns geht es nicht darum, wann Dürer ein Bild oder eine Zeichnung fertiggestellt hat, sondern warum“, erläutert Hess den neuen kulturgeschichtlichen Ansatz, an dem Wissenschaftler der unterschiedlichsten Disziplinen gemeinsam forschen. Darunter sind Experten für die Literatur des 16. Jahrhunderts ebenso wie Humanismusforscher und Tintenexperten. „Die Frage der Funktion ist ein unbeackertes Feld“, erklärt Eser den revolutionären Ansatz.

Staunen über Dürer

Auch die Frage nach dem Warum lässt sich nur anhand von Originalen beantworten. Davon sind 30 Gemälde und 130 Zeichnungen im Untersuchungspool, der nun ganz genau unter die Lupe genommen wird — technologisch, inhaltlich, maltechnisch. „Wir leisten zwar die Autopsie, wollen aber keinen neuen Werkkatalog erstellen“, sagt Hess. Mit einer nagelneuen, 50.000 Euro teuren High-Tech-Infrarot-Kamera werden jetzt die Gemälde durchleuchtet, um Vorzeichnungen sichtbar zu machen. „Neuerdings arbeiten wir auch mit der Bundesanstalt für Materialforschung zusammen, die für uns herausfindet, ob die Tinte des Monogramms dieselbe ist wie die des Motivs“, so Eser. Denn oft wurden Jahreszahlen und Monogramme nachträglich hinzugefügt — sei es vom Meister selbst, Sammlern oder auch Fälschern.

Die älteste Ansicht von Fürth

Die wirklich spannenden Entdeckungen machen die reisenden Forscher aber vor Ort, beim Brüten über den fragilen Zeichnungen in London und Berlin, Wien und Paris. „Manchmal läuft das nach dem Motto: hinfahren, anschauen, staunen und sich freuen“, sagt Eser und berichtet von seiner neuesten Detektivarbeit im British Museum: Hier identifizierte er auf einer Dürer-Zeichnung von Weiherhaus die wohl älteste Ansicht der Stadt Fürth. Zugegeben, sie liegt im Bildhintergrund, ist klein wie ein Fliegenschiss und in Katalogabbildungen der Zeichnung nicht zu erkennen, wohl aber im Original.

Übersehen wurde bislang auch eine Besonderheit in der Ansicht Innsbrucks von 1496: „Dürer hat zuerst den linken Teil des Blattes gezeichnet, dann den rechten und dadurch in der Mitte eine Leerstelle gelassen“, zeigt Hess. Warum das bislang noch keinem aufgefallen ist? „Es ging immer nur darum, wann er das Blatt gemalt hat. Diese Herangehensweise verstellt den Blick auf alles andere“, erklärt der Fachmann und fordert: „Wir müssen in Vorgängen denken.“

Was das bedeutet, erklärt er anhand eines Aquarells, das im Vordergrund das präzise ausgearbeitete Ufer eines Sees zeigt, im linken Hintergrund sauber gezeichnete Bäume, die nach rechts hin immer skizzenhafter werden. „Man kann Dürer hier beim Erarbeiten formaler und farblicher Probleme über die Schulter blicken“, sagt Hess: Akribisch habe er am Übergang von Wasser zu Land gemalt, Grashalm um Grashalm gesetzt. Und man sieht tatsächlich schon auf der Kopie: Aus dieser Uferzone will der Perfektionist das letztmögliche rausholen, jede Schattierung, jedes Detail erfassen.

Große Ausstellung geplant

„Bei Dürer verselbstständigen sich in der Zeichnung Motive wie Felsen oder Bäume, die in Gemälden nur im Bildhintergrund auftreten“, sagt Eser über die Funktion der Landschaftsblätter. „Besonders pittoreske Landschaften hat er sich im Musterbuch aufgehoben, weil er wusste, er braucht sie wieder“, erläutert Eser das pragmatische Vorgehen des Künstlers. Den sehen die Forscher „als Optimierer und Vollender, nicht so sehr als Erfinder und Erneuerer“.

„Er macht eben alles eine Potenz besser und professioneller als seine Kollegen“, erklärt Eser und ist sich sicher: „Dürer verträgt viel an neuen Deutungen.“ Vom Sockel stoßen möchte er den großen Künstler dabei keineswegs, aber besser kennenlernen. Dazu gehört auch das persönliche Umfeld des jungen Mannes. „Nürnberg bot ihm den idealen Nährboden, sich als Maler zu etablieren. Zwischen der Stadt und dem Künstler bestand eine Win-Win-Situation. Deswegen ist er auch nie weggezogen“, erklärt Hess und zählt auf, wer so alles zu den Nachbarn der Familie Dürer zählte: Alle frühen Auftraggeber sind darunter und auch seine spätere Frau Agnes.

Seinen Ausgangspunkt nahm das Forschungsprojekt mit der Mutter Dürers. Deren im GNM verwahrtes Porträt wurde 2003 als ein Original identifiziert. Zur großen Dürer-Schau in Wien wurde GNM-Kurator Daniel Hess dann gebeten, einen Text über das Frühwerk zu schreiben. Daraus entwickelte sich die Idee, grundlegend zu dem Thema zu forschen. Bei der Leibniz-Gemeinschaft setzte man sich mit dem international angelegten Vorhaben unter 85 konkurrierenden Forschungsanträgen durch.

Anderthalb Jahre sind jetzt noch Zeit. Dann soll eine Publikation mit allen neuen Ergebnissen erscheinen, ein Dürer-Wikipedia fertig sein und eine große Ausstellung im Sommer 2012 das Projekt krönen. Wie viele Originale aus aller Welt man dafür nach Nürnberg holen kann? „Dürer-Werke stehen überall auf Sperrlisten und werden normalerweise nicht ausgeliehen“, sagt Hess — und bleibt dennoch optimistisch.