Straßenschlachten in den USA

28.10.2019, 12:16 Uhr
Straßenschlachten in den USA

© Foto: Bettina Stöß

Manche Themen bleiben leider immer aktuell. Rassismus beispielsweise oder auch die Spaltung der Gesellschaft. Bei der Uraufführung 1957 in New York war die "West Side Story" ihrer Zeit zweifellos voraus, nicht nur in formaler Hinsicht. Längst ist das Musical ein moderner Bühnenklassiker, der aber immer noch auf den Nägeln brennt. Vermutlich ist das auch ein Grund dafür, dass Steven Spielberg derzeit an einer neuen Verfilmung des Stoffes arbeitet.

Auch die gekonnte, ausgesprochen politische Inszenierung von Melissa King am Nürnberger Staatstheater macht eindrucksvoll deutlich, dass die "West Side Story" alles andere als kalter Kaffee ist. Die Regisseurin und Choreographin, die das Musical bereits mehrfach inszeniert hat, verlegt die Geschichte aus den fünfziger Jahren in die Gegenwart. Möglich ist das, seitdem die amerikanischen Rechte-Inhaber nicht mehr strikt auf die Original-Broadwayproduktion pochen. Kings Regiekonzept geht weitgehend auf – dafür hätte es allerdings die plakativen Projektionen gar nicht gebraucht.

Wenn der Sternenbanner auf dem Kopf steht oder die Namen zahlloser Justizopfer eingeblendet werden, dürfte auch dem Letzten klar geworden sein, dass hier der amerikanische Traum verhandelt wird. Beziehungsweise das, was von ihm übrig geblieben ist. Obwohl sein Name überhaupt nicht erwähnt wird, denkt man automatisch an Donald Trump.

"Wir leben in einer Zeit, in der jeder das Recht hat, andere Menschen mit Respektlosigkeit zu behandeln", schreibt Melissa King im Programmheft. "Durch Trump ist es salonfähig geworden, sich gegenseitig zu erniedrigen und zu denunzieren – er macht es selbst vor."

Die Folgen solcher Hassreden haben schon die Autoren der "West Side Story" thematisiert. Aus dem Teufelskreis der Gewalt gibt es für die verfeindeten Jugendbanden kein Entkommen. Das wird bereits am Anfang klar, wenn die Jets und die Sharks aufeinandertreffen, die einen stammen aus dem Prekariat, die anderen sind Migranten aus Puerto Rico. Das spielerische Kräftemessen beim Tanz wird zur kollektiven Drohgebärde. Dabei gehören die Mitglieder beider Gangs, die hier um die Vorherrschaft auf der Straße kämpfen, zu den Verlierern der Gesellschaft. Das ist ihnen auch durchaus klar, wie die drastischen Gesangstexte von Stephen Sondheim deutlich machen.

Wilde Tanzszenen

Die wilden Tanz- und Kampfszenen sind Melissa King besonders eindrucksvoll gelungen. Dabei kann sie sich auf ein ebenso sportives wie tänzerisch bestens disponiertes (Gast-) Ensemble verlassen, das vom Street Dance bis zum Mambo alles drauf hat. Mit erstaunlicher Leichtigkeit gelingen die Übergänge von den energiegeladenen Massenszenen zu leisen, poetischen Momenten. Die gehören in erster Linie dem Liebespaar, das wie Shakespeares "Romeo und Julia" verfeindeten Lagern angehört. Auch die Liebe von Tony und Maria scheitert hier letztlich an der gesellschaftlichen Realität, so sehr sie sich auch an die Utopie klammern.

Die Nürnberger Ensemble-Mitglieder Hans Kittelmann und Andromahi Raptis erweisen sich in diesen Musical-Rollen als Idealbesetzung, sängerisch ebenso wie schauspielerisch. Ihnen gelingen sinnliche, anrührende Liebesszenen, nicht nur wenn sie Evergreens wie "Maria" oder "Tonight" anstimmen.

Das Paar versucht vergeblich, dem Feinddenken der Jets und der Sharks etwas Positives entgegenzusetzen. Außerhalb dieser Clans stehen nur der alte Doc (Jochen Kuhl), der sich ebenfalls der Gewalt entgegenstellt, und die beiden Polizisten, die hier zu ebenso lächerlichen wie dubiosen Randfiguren mutieren – der Schwachpunkt in einer Inszenierung, die doch gerade auch Polizeigewalt in den USA anprangern will. Gezeigt wird eine düstere, unwirtliche Welt: Das bewegliche Bühnenbild von Knut Hetzer erinnert mit seinen verrosteten Stahlträgern an Brücken oder Industrieruinen.

Unter der Leitung von Lutz de Veer spielt die Staatsphilharmonie in kleiner Besetzung die immer noch aufregende Musik ganz im Sinne des Komponisten Leonard Bernstein – genreübergreifend und irrlichternd zwischen U und E, Jazz und Latin, Tanz- und Kunstmusik. Das gelingt mühelos und mitreißend. So bleibt die Musik als einziger Trost in einer Geschichte ohne Happy End und einer Liebe, die vor der Gewalt kapituliert. Das Publikum reagierte mit langem, begeisterten Applaus auf diese packend aktualisierte "West Side Story", die sicherlich ein Renner wird.

Weitere Vorstellungen: 28., 31. Oktober; 10., 17. November; 2., 6., 15., 23. und 31. Dezember. Karten-Tel.: 09 11/2 16 27 77.

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