Umzug von Berlin: Welche Pläne Orgelwochen-Intendant Puschke nach Nürnberg bringt

29.3.2021, 17:42 Uhr
Die Kulturförderung sei immer noch so starr organisiert, als gäbe es keine Pandemie, kritisiert ION-Chef Moritz Puschke.

© Foto: Thomas Radlwimmer/ ION Die Kulturförderung sei immer noch so starr organisiert, als gäbe es keine Pandemie, kritisiert ION-Chef Moritz Puschke.

„Wir stehen vielleicht am Beginn eines pandemischen Zeitalters.“ Der das sagt, ist kein Epidemiologe, aber ein heller, am Zeitgeschehen interessierter Kopf – und nennt sich selbst „Musik-Macher“. Das kann vieles heißen – und heißt bei Moritz Puschke auch viel. In Nürnberg ist es dabei sein Hauptjob, in diesem Sommer das 70. Jubiläum der Internationalen Orgelwoche Nürnberg (ION) zu organisieren. Mit jenem Nachsatz, der zurzeit so vieles schwer macht: „unter Pandemiebedingungen“.

Letztes Jahr musste Puschke kurzfristig mit der ION, die er in „Musikfest ION umbenannt hat, fast vollständig ins Internet ausweichen. Er zauberte ein Online-Festival aus dem Hut, das einiges an Anerkennung einsammelte. Jetzt, nach über einem Jahr Pandemieerfahrung, kann er ziemlich genau benennen, an was die Kulturschaffenden derzeit am meisten leiden und was man in der gegenwärtigen Krise besser machen könnte.

Vor allem aber: wie sich der Kulturbetrieb und dessen Förderung ändern sollten, damit die Kultur in einer Welt mit Corona – „was nicht in drei oder sechs Monaten vorbei sein wird“ – und womöglich weiteren, neuen Seuchen gedeihen kann.


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Zu den Punkten, die Puschke in einem ausführlichen Gespräch erwähnt, zählt die „Regionalisierung“. Dahinter steht die These, dass sich der Kulturbetrieb nach oder mit Corona vermutlich räumlich begrenzter organisieren wird – mit einer stärkerer Betonung persönlicher Bindungen.

Es scheint, als wolle Puschke da selbst mit gutem Beispiel vorangehen: Bald wird die ION, die 1951 erstmals in einer weitgehend zerstörten Stadt und der nur notdürftig in Stand gesetzten Sebaldus- und Lorenzkirche stattfand, wieder einen Chef haben, der auch in Nürnberg wohnt.

Der legendäre Werner Jacob, der das Festival vier Jahrzehnte lang prägte und es zu einem der weltweit wichtigsten Feste der Musica Sacra machte, war der letzte künstlerische Leiter der ION, der hier wohnte. 2003 legte er sein Amt nieder, 2006 starb er.

Der vierte seiner Nachfolger wird nun nach Nürnberg ziehen. Moritz Puschke wird mit seiner Familie, eine Ehefrau und zwei Töchter, in diesem Sommer den Umzugswagen packen und von Berlin in die Stadt an der Pegnitz wechseln. Seit 2019 leitet er die ION, im Januar wurde er – erstmals in der Geschichte des Festivals – zum geschäftsführenden Intendanten ernannt. Und der ursprünglich bis zum Jahr 2022 terminierte Vertrag wurde in einen unbefristeten umgewandelt.


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Damit macht die ION Schluss mit jener Übergangsphase nach Jacob, in der man alle vier bis sechs Jahre die künstlerische Leitung und damit die programmatische Ausrichtung wechselte. Stattdessen plant man – nach Robert King, Wilfried Hiller und Folkert Uhde – mit Puschke wieder längerfristig.

Es könnte nicht nur für das Festival, sondern für die gesamte Stadt ein Gewinn werden. Denn Puschke, der 1971 im schleswig-holsteinischen Rendsburg geboren wurde und in Limburg und in Bremen aufwuchs, ist im Musikbetrieb nicht nur bestens vernetzt, sondern er kennt „die Szene“, wie er den Musikkosmos in Deutschland gerne nennt, aus den unterschiedlichsten Perspektiven.

Kann auch Reden halten: ION-Intendant Moritz Puschke, hier beim Staatsempfang für das Festival im Jahr 2019 im Rittersaal der Kaiserburg.

Kann auch Reden halten: ION-Intendant Moritz Puschke, hier beim Staatsempfang für das Festival im Jahr 2019 im Rittersaal der Kaiserburg. © Hans von Draminski

Da wäre einmal das Singen, das schon vor Corona mit der Gründung von vielen Stadtteil-, Kneipen- und Projektchören wieder einen großen Aufschwung erlebte: Puschke rief für die neuen und alten Chöre, für die Laien und Profis den Fachkongress chor.com und zusammen mit seinem ION-Vorgänger Folkert Uhde das Festival Chor@Berlin ins Leben.

Da wäre die Rockmusik: Puschke hat im Jahr 2000 die Band „The Fairies“ mitbegründet, in der er Keyboard spielt, und die sich u. a. mit diversen Beatles-Themennächten einen Namen gemacht hat.

Da wären die Verbandsarbeit und die Kulturpolitik: Puschke ist seit 2013 Mitglied im Präsidium des Deutschen Musikrats. Als er noch Musikmanager am Bremer Dom war, holte sich der damalige Bremer Bürgermeister Henning Scherf, der zugleich Kultur und Kirchensenator war, fachkundigen Rat bei Puschke.

Dazu gesellt sich umfangreiche Medienerfahrung in der Zusammenarbeit mit Fernsehsendern und als geschäftsführender Redakteur der Fachzeitschrift Chorzeit. Das Festivalkerngeschäft kennt Puschke als ehemaliger Geschäftsführer des Alsfelder Vokalensembles und als Organisator von Bach-Wochen und Chor-Festen natürlich ebenfalls bestens.

Da kommt also geballte „Musik-Macher“- und Kulturmacher-Kompetenz in eine Stadt, die das gerade recht gut gebrauchen kann. Denn es gab schon bessere Zeiten für die Nürnberger Kultur als die letzten Monate: Das Aus für die Kulturhauptstadtbewerbung, das Nein zum neuen Konzertsaal, die im Raum stehende langwierige und sehr teure Opernhaussanierung samt der noch zu findenden Ausweichspielstätte drücken ebenso auf die Stimmung wie das ungeschickte Agieren der Stadt im Umgang mit der Regenbogen-Aktionskunst an der Zeppelintribüne - und natürlich die monatelange Lähmung des Kulturbetriebs durch die Corona-Pandemie.

Was braucht es da, damit die Kultur wieder Thermik unter die Flügel kriegt, trotz Pandemieregeln, die Planungssicherheit unmöglich machen? „Es wäre illusorisch, von der Politik zu erwarten, dass sie mir sagt, wie der Status Quo im Sommer sein wird“, sagt Puschke.

Für die weitgehende virtuelle und gestreamte ION des Jahres 2020 richtete Moritz Puschke eine Art Wohnzimmer ein. Das Prinzip hat Schule gemacht, wie der Politische Aschermittwoch der CSU bewiesen hat.

Für die weitgehende virtuelle und gestreamte ION des Jahres 2020 richtete Moritz Puschke eine Art Wohnzimmer ein. Das Prinzip hat Schule gemacht, wie der Politische Aschermittwoch der CSU bewiesen hat. © Foto: Thomas Radlwimmer/ ION

Eine klare Forderung aber hat er für den Moment: Die Soforthilfen für die Kulturschaffenden, die Soloselbständigen müssen so angepasst werden, dass jene, die Not leiden, zielsicher identifiziert werden und schnell Hilfe bekommen – „mit Geld, unbürokratisch und mit großem Vertrauen“. Würde das endlich klappen, wäre in der Szene auch größere Akzeptanz für schwierig zu fällende Entscheidungen vorhanden, so Puschke.

Eine noch größere Tragweite hat die von ihm festgestellte Diskrepanz zwischen der Planungsunsicherheit für Kulturschaffende und der Kulturförderung. Seit Corona müsse man ständig kurzfristig umplanen, oft Programme mehrgleisig anlegen. „Der Förderapparat aber tut so, als sei im Kulturbetrieb nach wie vor alles so wie immer. Viele machen sich keine Vorstellungen, welch einen Druck es bedeutet, Mittel umzuwidmen oder in andere Förderzeiträume zu übertragen“, kritisiert Puschke.

Gäbe es hier mehr Flexibilität – er spricht von „Beinfreiheit“ –, würde das viel Druck von den Kulturorganisatoren nehmen. In Nürnberg gebe es bei der Konzeption des ION-Programms zwar eine gute Kommunikation mit den Förderern, bundesweit aber seien die Unterschiede zwischen den Ländern sehr groß und hinderlich – „ein Flickenteppich“, so Puschke.

Dabei seien die Schäden, die die Coronakrise in der Musikszene angerichtet habe, groß und zum Teil irreparabel, diagnostiziert er: Pop- und Rockmusiker treffe es am härtesten. Sie zählten – anders als die Klassik – zur „kommerziellen Musik“ und unterlägen größtenteils gar nicht der Kulturförderung. Eine „unselige Unterscheidung“ nennt der vielgleisig fahrende Musik-Macher das – nicht mehr tauglich in Pandemiezeiten.

Aber auch in der ausdifferenzierten Klassikszene besteht die Gefahr eines Aderlasses: Puschke zitiert eine neue Umfrage des Landesmusikrats Berlin, nach der 30 Prozent der jungen Freischaffenden planen, sich dauerhaft aus der Kultur zu verabschieden. Das seien die jungen, hochmotivierten, oft in mehreren Studien geschulten End-Zwanziger, die nach der Hochschule auf ihre erste Tournee – „etwa mit einem Barockensemble wie der Gaechinger Kantorei“ – gehen wollen und nun keine Perspektive haben. „Ganze Jahrgänge könnten wir verlieren“, befürchtet er.

In den Musikernetzwerken der Sozialen Medien nimmt er inzwischen einen „aufgerauten, wunden Ton“ wahr. Statt längst notwendige Diskussionen – sei es über den Sinn von E und U, Professionalisierung und Qualität – sachlich zu führen, dominierten immer mehr Streit und Aggressionen. Puschke warnt: „Wenn sich die Szene jetzt auseinanderdividieren lässt und gegenüber der Politik keine starke Stimme mehr hat, gehen wir vor die Hunde.“

Den Kulturpolitikern stellt Puschke aber überwiegend ein gutes Zeugnis aus: „Wenn man sie direkt mit konkreten Anliegen anspricht, haben viele ein offenes Ohr. Einige geben aber auch zu, dass sie von der Situation überfordert sind.“ Puschke versteht das, denn: „Förderprogramme werden normalerweise über lange Zeiträume entwickelt, in Coronazeiten aber muss alles extrem schnell gehen, da kann nicht alles auf Anhieb klappen.“

Musikschaffende bräuchten aber dringend Hilfe über das Finanzielle hinaus, betont Puschke und nennt Themen wie Selbstorganisation, Selbstmanagement, Soziale Medien, Altersvorsorge. Hier lege die Pandemie schonungslos bisherige Mangelzustände offen: „Die freie Szene war nicht oder kaum organisiert, das muss sich dringend ändern.“ Immerhin findet er daran etwas Positives: „Seit einem Jahr wird über freie Musiker mehr geredet als jemals zuvor in 70 Jahren Bundesrepublik.“

Doch ob all das nachhaltig ist, nachwirkt, wenn die Pandemie einmal abgeklungen sein sollte? Tatsächlich sieht Puschke die Gefahren für das Kulturleben eher mittelfristig: „Fast alle Festivals sind projektfinanziert“, sorgt er sich: „Ich habe als Geschäftsführer des Deutschen Chorverbands schon einmal erlebt, wie nach der Finanzkrise 2008/9 die Sparhaushalte kamen.“

Um diese Gefahr abzuwenden ist wohl viel Kärrnerarbeit in den Gremien und in der Verhandlung mit Kulturpolitikern nötig. Die Basis, das Wichtigste dabei sei, die zukünftigen Fördermodalitäten einem Kulturbetrieb unter Pandemiebedingungen anzupassen - also flexibel, mit „Beinfreiheit“ und mit Hilfsprogrammen als eine Art Backup, falls neue, seuchenbedingte Verwerfungen drohen.

So umgänglich Puschke auch sonst wirkt – wenn es um den Kulturauftrag einer demokratisch verfassten Gesellschaft geht, macht er keine Kompromisse: „Da bin ich knallhart: Die Finanzierung muss sichergestellt werden, es müssen Ermöglichungsräume geschaffen werden, in der die Musiker leben und arbeiten können“. Nur so könne Kultur gedeihen – in einer Zeit, in der Corona oder andere Pandemien vielleicht auf Dauer für Planungsunsicherheit sorgen.

Eine starke Stimme hat der Musikmacher aus Berlin, der nun nach Nürnberg zieht. Die könnte auch hier sehr wertvoll werden, sobald im Nürnberger Kulturleben die Verteilungskämpfe zunehmen.

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