Eröffnung der Bayreuther Festspiele

Warum es so einen "Fliegenden Holländer" noch nie gab

25.7.2021, 23:23 Uhr
Kleinbürgerlichkeit im kleinen Glashaus. Szene aus dem neuen "Fliegenden Holländer", mit dem am 25. Juli die Bayreuther Festspiele eröffnet wurden.

© Enrico Nawrath, dpa Kleinbürgerlichkeit im kleinen Glashaus. Szene aus dem neuen "Fliegenden Holländer", mit dem am 25. Juli die Bayreuther Festspiele eröffnet wurden.

Am Ende fallen Schüsse und sterben Menschen. Das ist so nicht in Richard Wagners Libretto und Szenenanweisungen vorgesehen. Regisseur Dmitri Tcherniakov geht bei seinem Bayreuth-Debüt volles Risiko und wagt eine Deutung, unter der die Geschichte merklich ächzt.

Der verfluchte Seefahrer, der über die Weltmeere geistern muss und nur alle sieben Jahre an Land darf, um eine Frau zu finden, deren absolute Treue ihn von seinem Geisterdasein erlösen würde, wird bei ihm zu einem hasserfüllten Heimkehrer in seine Heimatstadt. Dort ist ihm in früheren Jahren wohl Schreckliches widerfahren.

Dies wird zum musikalischen Vorspiel in einer Art Albtraumhandlung angedeutet. Sentas Vater Daland hat darin eine Affäre mit einer Frau, die er nach schnellem Sex schnell wegstößt.

Ein Junge beobachtet diese Szenerie und wirkt verstört. Die Frau wird zur Außenseiterin in der Dorfgemeinschaft und erhängt sich schließlich vor den Augen des Jungen.

Senta (Asmik Grigorian, sitzend) hat keinen Bock auf den biederen Alltag in Dalands Welt. Szene aus dem Bayreuther "Fliegenden Holländer" mit Marina Prudenskaya (Mary) und Eric Cutler (Erik).

Senta (Asmik Grigorian, sitzend) hat keinen Bock auf den biederen Alltag in Dalands Welt. Szene aus dem Bayreuther "Fliegenden Holländer" mit Marina Prudenskaya (Mary) und Eric Cutler (Erik). © Enrico Nawrath

Viele Jahre später kehrt der Holländer laut eingeblendetem Zwischentitel in diese Stadt zurück. Tcherniakov, der auch das Bühnenbild entworfen hat, schafft eine Horrorvision aus kleinen Klinkerhäusern samt Kirche, die wie geisterhafte Spielsteine bei den Szenenwechseln bewegt und immer wieder in neue Anordnungen gebracht werden.

Diese Szenerie wirkt verdächtig steril und wie ein Wink mit dem Laternenpfahl: hinter solchen sauberen Fassaden - die leider auch rasch optische Langeweile verbreiten - muss ja etwas im Argen liegen.

In einem Anbau, einer Art Wintergarten mit Esstisch, regiert prompt die biedere Bürgerlichkeit Dalands. In diesem Glashaus sollen sich der Holländer und Senta unter väterlicher Aufsicht näher kommen.

Anders als in vielen anderen Deutungen ist bei Tcherniakov Senta jedoch gar nicht an ihrem neuen Verehrer interessiert. Kein Wunder, denn ihr Ehemann in spe Erik ist ein ziemlich attraktiver Hüne.

Ein Mann mit Abgründen: John Lundgren als Holländer im "Fliegenden Holländer" bei den Bayreuther Festspielen.

Ein Mann mit Abgründen: John Lundgren als Holländer im "Fliegenden Holländer" bei den Bayreuther Festspielen. © Enrico Nawrath, dpa

Wenn der Holländer Senta den Hof macht, sitzen Sentas Vater und Mary - die Amme hat die Regie zu Dalands Lebensgefährtin umgedeutet - mit am Tisch. Senta und Daland machen sich sogar über den Holländer lustig.

Senta scheint ihre berühmte Ballade, in der sie vor der Erscheinung eines Mannes träumt, der dem Holländer wie aus dem Gesicht geschnitten ist, in dieser Inszenierung gar nicht für sich selbst, sondern für Mary zu singen. Für diese hat der Holländer in ihrem Leben eine dunkle Bedeutung - was am Ende für einen sehr ungewöhnlichen Schluss dieser Oper sorgen wird.

Doch die eigentliche Überraschung von Tcherniakovs traumartig verrätselter Deutung ist da schon geschehen. Während des großen Fests, auf dem die Hochzeit des Holländers mit Senta gefeiert werden soll, schießt dieser plötzlich in die Menge und tötet drei Menschen. Anschließend gehen die Häuser der kleinen Stadt in Flammen auf.

So macht der Regisseur aus Wagners romantischem Schauermärchen über einen verfluchten Seefahrer und eine junge, sich als Außenseiterin fühlende und sich in die Arme des großen Unbekannten träumende Frau eine Rachestory.

Doch das verkleinert die Geschichte und lässt zudem die notwendige psychologische Stringenz vermissen. Dass ein traumatisiertes Kind viele Jahre später zu einem Amokläufer werden soll, wirkt als Interpretation dieser Oper schlicht überzogen.

Glücklich nach der Premiere: Oksana Lyniv, die erste Dirigentin der Bayreuther Festspielgeschichte. 

Glücklich nach der Premiere: Oksana Lyniv, die erste Dirigentin der Bayreuther Festspielgeschichte.  © Nicolas Armer, dpa

Genau richtig dosiert ist dagegen die Musik dieses "Fliegenden Holländers". Der Ukrainerin Oksana Lyniv gelingt ein hervorragendes Debüt. Es wirkt so, als habe sie schon immer in dem akustisch komplizierten verdeckten Orchestergraben des Bayreuther Festspielhauses gestanden.

Immerhin war sie ja mehrere Jahre Assistentin von Kirill Petrenko, heute Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, als dieser auf dem Grünen Hügel seinen gefeierten "Ring des Nibelungen" dirigierte.

Mit viel Verve und Vitalität lässt sie das Brausen des Meeres, den Schwung der Seefahrer-Shantys, die dramatisch eindrucksvolle Harmonik und Melodik der Balladen entstehen.

Eheanbahnungsgespräche im "Fliegenden Holländer": Szene aus der Bayreuther Inszenierung von Dmitri Tcherniakov.

Eheanbahnungsgespräche im "Fliegenden Holländer": Szene aus der Bayreuther Inszenierung von Dmitri Tcherniakov. © Enrico Nawrath, dpa

Genau so gut gelingen ihr aber auch die lyrisch-romantischen Momente und die Proportionen der hier von Wagner passagenweise noch verwendeten traditionellen ariosen Elemente. Für ihre hervorragende Leistung erntete Oksana Lyniv am Ende Standing Ovations und Begeisterungsstürme.

Und ein ewiger Eintrag in die Annalen Bayreuths ist ihr sowieso sicher: nach 145 Jahren und 92 Männern ist sie die erste Frau, die hier dirigieren durfte!

Sängerisch lässt die Besetzung dieses "Fliegenden Holländers" ebenfalls keine Wünsche offen. Asmik Grigorian, die 2018 bei den Salzburger Festspielen als Salome zum Star wurde, ist eine energiegeladene Senta, die in den Höhen Feuer versprühen kann.

So rätselhaft Tcherniakovs Inszenierung ist, so nachvollziehbar gibt sie die widerständige junge Frau voller Widersprüche, die sich allen Erwartungen verweigert.

Ein stimmliches Naturereignis ist der Holländer von John Lundgren, auch wenn ihn die Regie seine unheilvolle Auftrittsarie im Sitzen singen lässt. Trotzdem holt Lundgren dabei so viele düstere und auch sehnsuchtsvolle Facetten aus der Partie, dass es eine Freude ist, ihm zuzuhören.

Eine vor Leben bebende Mary mit abgründiger Mezzotiefe gelingt Marina Prudenskaya, die Anfang der 2000er Jahre Ensemblemitglied am Nürnberger Opernhaus war. Ebenso wird durch die Regie Attilo Glaser als Steuermann aufgewertet, der bei der tödlich aus dem Ruder laufenden Hochzeitsfeier ein Antreiber des Geschehens ist.

Eric Cutler singt und gestaltet einen virilen Erik. Georg Zeppenfeld, einer der tragenden Bayreuther Sänger der letzten Jahre, gibt Daland solide Basstiefe, bleibt als Figur aber die angedeutete Abgründigkeit schuldig.

Doch dafür ist die Regie verantwortlich. Dmitri Tcherniakov will diesem "Fliegenden Holländer" eine Deutung aufzwingen, die diese Oper überfordert. Die vielen Buhs für ihn waren nachvollziehbar.

Die Vorgängerinszenierung des "Fliegenden Holländers" in Bayreuth, die vom Nürnberger Schauspielchef und international gefragten Opernregisseur Jan Philipp Gloger stammte, war im Vergleich dazu deutlich schlüssiger und bot trotzdem ironische Doppelbödigkeit.

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