Weiterentwicklung von Streaming und Projektion

Wie Abba und die Bayreuther Festspiele neu definieren, was live bedeutet

25.10.2021, 05:55 Uhr
Virtuelle Realität erobert das Bayreuther Festspielhaus. Jay Scheib ließ in seinem Pilotprojekt "Sei Siegfried" einen Drachen durch den Zuschauerraum fliegen. Bei seinem "Parsifal" 2023 will er noch weiter gehen.

© Jay Scheib/Bayreuther Festspiele Virtuelle Realität erobert das Bayreuther Festspielhaus. Jay Scheib ließ in seinem Pilotprojekt "Sei Siegfried" einen Drachen durch den Zuschauerraum fliegen. Bei seinem "Parsifal" 2023 will er noch weiter gehen.

Fünf Wochen lang trugen die Mitglieder von Abba diese Ganzkörperanzüge mit bunten Punkten. Darin zeichneten sie vor 160 Kameras alle Songs auf, die nächstes Jahr in London präsentiert werden - mit künstlichen Stellvertretern der Musiker.

Fünf Wochen lang trugen die Mitglieder von Abba diese Ganzkörperanzüge mit bunten Punkten. Darin zeichneten sie vor 160 Kameras alle Songs auf, die nächstes Jahr in London präsentiert werden - mit künstlichen Stellvertretern der Musiker. © Industrial Light And, dpa

Zwei Extrempositionen zeichnen sich dabei ab, sie weisen quasi in entgegengesetzte Richtungen und werden beide von weltberühmten Kulturakteuren vorangetrieben.

Die Bayreuther Festspiele haben für die Neuproduktion von Richard Wagners Alterswerk „Parsifal“ im Jahr 2023 den US-Regisseur, Dramatiker und Künstler Jay Scheib engagiert. Er ist auch Professor am renommierten Massachusetts Institute of Technololgy (MIT) und erfahren im Einsatz von Techniken der Virtuellen Realität (VR).

Jay Scheibs für 2023 geplante "Parsifal"-Deutung soll Elemente der Virtuellen Realität enthalten, die nur mit einer speziellen Brille zu sehen sind. Ebenso wie dieser Feuer speiende Drache in seinem Projekt "Sei Siegfried".

Jay Scheibs für 2023 geplante "Parsifal"-Deutung soll Elemente der Virtuellen Realität enthalten, die nur mit einer speziellen Brille zu sehen sind. Ebenso wie dieser Feuer speiende Drache in seinem Projekt "Sei Siegfried". © Bayreuther Festspiele/Jay Scheib

Für seinen „Parsifal“ am Grünen Hügel von Bayreuth plant er den Einsatz von 3D-Elementen, die erst richtig zur Entfaltung kommen, wenn man dafür eine sogenannte VR-Brille aufsetzt. „Das wäre richtig toll“, sagte Scheib bei der Vorstellung des Projekts in Bayreuth, „ein ganzes Publikum mit Brillen, oder?“

Zwar betonte Festspielchefin Katharina Wagner, dass man die Inszenierung auch ohne Brille anschauen könne, doch die VR-Technik hat das Potenzial - wenn sie konsequent künstlerisch weiterentwickelt wird -, irgendwann beim Publikum die Grenze zwischen realer Anwesenheit in einem Zuschauerraum und Streaming zu Fall bringen.

Benötigt der Zuschauer für das Erleben einer Aufführung eine VR-Brille, dann könnte er in naher Zukunft die gleichen visuellen und akustischen Informationen über einen Internetanschluss vermittelt bekommen – und dabei zum Beispiel zu Hause auf dem Sofa sitzen. VR-Brillen haben oft auch integrierte Kopfhörer, manche sind geformt wie ein Helm – die Sinnesorgane würden dann mit der Aufführung „bespielt“ werden, unabhängig davon, in welchem Raum man sich gerade befindet.

Ist bei dieser weiter gedachten Innovation der Bayreuther Festspiele vielleicht irgendwann nicht mehr die Anwesenheit des Publikums in einem Zuschauerraum nötig, so schafft die Popgruppe Abba derzeit nichts weniger ab, als die Notwendigkeit der Anwesenheit der Künstler bei einem Auftritt.

Von Mai bis Oktober 2022 soll in einem speziellen Londoner Theater, das eigens für diesen Zweck gebaut wird, nach 40 Jahren Pause die „Voyage“ titulierte Comeback-Tour der Weltstars stattfinden. Die aber keine Tour ist – und nicht mal ein realer Auftritt.

Denn die heute über 70-jährigen vier Bandmitglieder schicken virtuelle Stellvertreter auf die Bühne. Keine Hologramme, wie sie betonen, sondern Kunstfiguren, die in der deutlich aufwändigeren Motion-Capture-Technologie aufgenommen wurden – sie stammt aus den Special-Effects-Schmieden der großen Hollywood-Studios und kam bislang in Filmen wie „Herr der Ringe“ und „Avengers“ zum Einsatz.

Damit die „Abbatare“ - so die von „Avatare“ inspirierte Wortneuschöpfung - Konzerte geben können, haben Anni-Frid Lyngstad, Agnetha Fältskog, Benny Andersson und Björn Ulvaeus fünf Wochen lang vor 160 Kameras jeden Song gesungen, jede Körper- und Kopfbewegung aufgezeichnet. „Wir haben uns diese Ganzkörperanzüge mit Punkten angezogen. Und wir hatten Punkte im Gesicht. Und dann standen wir alle zusammen auf der Bühne und sind aufgetreten“, erzählt Björn.

3000 Besucherinnen und Besuchern bietet die neue Halle im Queen Elizabeth Olympic Park Platz, bereits jetzt soll die Nachfrage nach den Konzerten groß sein, auf jeden Fall werden derzeit Karten mit Preisen von bis zu über 1400 Euro angeboten.

So werden sich in London im nächsten Jahr bei zig als Live-Konzert titulierten Veranstaltungen (immerhin eine Band spielt live auf der Bühne) jeweils tausende Leute in einer Halle tummeln und den Auftritt von lediglich als Projektionen vorhandenen Weltstars feiern. Wenn dieses Projekt Schule macht und sich ökonomisch rechnet, wird es mit Sicherheit Nachahmer finden, die Projektionstechnik wird günstiger werden und weitere Verbreitung finden.

Das wäre im Vergleich zu den Bayreuther Festspielen das andere Extrem einer Neusortierung der Aufführungsbedingungen von Kulturveranstaltungen. Die Facetten dazwischen werden in Zukunft vielfältig sein – und die Reise dorthin ist immer noch in einem frühen Stadium.

Den Startschuss lieferte in den zwei letzten Jahren Corona. Dass in der Kultur in unterschiedlichsten Sparten Aufführungen vor einem live anwesenden Publikum stattfinden – diese uralte Gewissheit hat die Pandemie massiv erschüttert. Denn gleichzeitig waren die digitalen Übertragungstechniken bereits so weit gediehen, dass viele Darbietungen ins Internet ausweichen konnten und dem isoliert an seinen Endgeräten sitzenden Zuschauern per Stream übermittelt werden konnten, wenn auch oft mit Abstrichen, was den Vergleich mit dem ursprünglichen Kulturerlebnis betrifft.

Auch wenn pandemiebedingtes Social Distancing hoffentlich nun der Vergangenheit angehört, werden die neuen Übertragungstechniken nicht nur bleiben, sie werden sich sogar weiterentwickeln und das Verhältnis zwischen Darbietung und Publikum komplett neu ordnen. Abba und die Bayreuther Festspiele sind dabei zwei wichtige Vorreiter.

Verwandte Themen


Keine Kommentare