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Wird uns das Internet je wieder von der Leine lassen?

10.7.2021, 10:30 Uhr
Hund, nicht gerade fröhlich: online.

Hund, nicht gerade fröhlich: online.

Es geht doch nichts über das Erheiterungspotenzial von simplen lautmalerischen Analogien zwischen dem Englischen und dem Deutschen. Besonders, wenn sie mit ihrer Aussage so sehr ein Lebensgefühl treffen, wie jener Aufdruck auf dem T-Shirt eines Fahrgasts, den ich vor kurzem durch die Stadt kutschierte.

Auf dessen Brust waren zwei Hundepiktogramme zu sehen. Eines zeigte einen Vierbeiner mit gesenktem Kopf, traurig-grimmiger Miene und eingezogenem Schwanz. Der Hund war angeleint und unter ihm stand: „online“.

Der zweite Hund sprang fröhlich über das T-Shirt, sein Maul zu freudigem Bellen geöffnet, die Ohren fliegend, der Körper vor Lebendigkeit erbebend. Dieses Tier trug keine Leine und unter ihm stand: „offline“.

Hund, vor Freude kaum zu bremsen: offline.

Hund, vor Freude kaum zu bremsen: offline. © Mikkel Bigandt

Beide Bilder erinnerten mich an einen Artikel in der Zeitschrift The Atlantic, in der die Prognose aufgestellt wurde, dass nach dem Ende der Corona-Lockdowns nun die große Zeit des „Offlinings“ beginne. Dass der Mensch sich nun also von allen lästigen Internet-Leinen freimache, virtuelle Meetings, das Homeoffice und alle Streamingdienste hinter sich lasse und fröhlich wieder auf der duftenden Wiese der analogen Welt herumspringe.

Menschen wie mir, die nicht gleich eine Panikattacke bekommen, sobald sie die heimische W-Lan-Wolke verlassen müssen und manchmal sogar den Anachronismus wagen, sich mit einer gedruckten und fast obszön raschelnden Zeitung zwischen all die lautlos wischenden Smartphonies eines Cafes zu setzen, spricht so eine These natürlich aus dem analog in meiner Brust schlagenden Herzen.

Taxi!

Taxi! © Felix Hörhager

Da keimt in mir sogar der revolutionäre Gedanke auf, dass dieses virtuelle Paralleluniversum mit seinen institutionalisierten Dauerablenkungen und der kurzen Leine ständiger Überwachung sich einfach wieder so in Luft auflösen könnte, wie es vor 25 Jahren der Menschheit über Kopf und Hals gestülpt wurde.

Nur mag ich nicht so recht daran glauben, auch wenn The Atlantic die schlechtesten Quartalszahlen in der Geschichte von Netflix und wachsendes Desinteresse an der Wichtigtuer-App Clubhouse als Argument für seine Hypothese anführt.

Die Autorin des Artikels ahnt es selbst, wenn sie schreibt, dass sie es SO satt hat, auf ihre Computerscreens zu starren, ihr aber andererseits das Internet ein Gefühl von Komfort vermittelt, den sie nicht mehr missen möchte.

Da sind uns, glaube ich, Hunde überlegen. Der Online-Hund wird seine Leine kaum als Wohltat empfinden, der freie Offline-Hund wird erst recht nichts vermissen.

Wir aber, wir werden schon nervös, wenn das Netz, in dem wir zappeln, mal kurz schwächelt. Von wegen „offlining“: Die grüne Wiese, die uns locken könnte, ist oft genug selbst schon virtuell.

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