Zum "Tag des Nasebohrens": Gesellschaftlich verpönt, aber jeder macht es

23.4.2021, 16:45 Uhr
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© Rainer Jensen / dpa

Bevorzugter Tatort ist die Ampel. Bei Rotlicht allein im Auto, da zuckt der Finger ganz von selbst nach oben Richtung Riechorgan, sucht das Löchlein, herzt die Öffnung. Zusammengerechnet verbringt der deutsche Autofahrer im Laufe seines Lebens gut zwei Wochen vor roten Ampeln – da bleibt schön Zeit, einzukehren und in aller Stille zu sich zu kommen. Der Täter soll tendenziell eher männlich sein, wobei Wissenschaftler davon ausgehen, dass Frauen es genauso tun, nur heimlicher. Denn am liebsten bohren die Menschen in der Nase, wenn sie sich unbeobachtet glauben – allein zu Hause, im Büro, auf der Toilette. Stress mag ein Auslöser sein, Konzentration ein anderer. Die Wissenschaft forscht noch. Fest steht indes: Es gibt weiß Gott kostspieligere Hobbys ...

Wohl gelitten aus gesellschaftlicher Sicht ist das freilich alles nicht. Schon als kleines Kind lernt man: "Das tut man nicht!" Das beliebte Totschlag-Argument, mit dem sich Erwachsene seit Jahrhunderten blitzschnell aus allen unangenehmen Fragen winden. Wer es trotzdem tut und damit unbeschadet durchkommt, ist wahlweise Clown, Pirat, Rockstar, deutscher Fußball-Nationaltrainer – oder der tollkühne Filmheld Shrek.


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Dass sich weder die schwarze noch die weiße Pädagogik diesem Thema explizit widmet, ist bemerkenswert. Doch in Heinrich Hoffmanns legendärem "Struwwelpeter" von 1845 ist das Bohren in der Nase ebenso wenig ein Thema wie bei der Ärztin und Bestseller-Autorin Yael Adler ("Darüber spricht man nicht. Weg mit den Körpertabus!"). Einzig auf den alten Knigge ist Verlass. Die berühmte Anstandsfibel rät: Mit einem Taschentuch ab aufs Klo und das Tuch nach getaner Arbeit diskret entsorgen. Also wieder mal Tabu.

Als hätte man es hier mit einem alten proletarischen Handwerk zu tun, gibt es die lustigsten Umschreibungen und Wortschöpfungen – oftmals regional unterschiedlich: pulen, polken, stanzen, stochern, pfriemeln. In Franken: definitiv bubbeln. Definiert in dem beliebten Volkslied vom "Bubblmoo", in dem sich der übliche Dreischritt festgehalten findet: Schürfen, begutachten, entsorgen. Letzteres passiert meist, indem das Sekret zwischen Daumen und Zeigefinger zu einer Kugel gerollt und dann genüsslich wegschnippt wird. "Ich bin der Bubblmoo, ich hull mein Bubbl ro. Dann gei i rum um’s Eck un schnalz mein Bubbl weg."

Luther drohte mit dem Popelmann

Martin Luther empfahl einst Eltern, ihren Kindern mit dem Popelmann zu drohen . . . wobei dieser groteske, eitle Kobold, der mit seiner Lebensabschnittsgefährtin Popelhole anrückt, dem Namen zum Trotz mit dem Nasebohren nichts am Hut hat, sondern eine klassische Kinderschreckfigur aus dem Sudetenland ist. Der Popel ist hier eine Gewitterwolke, die seinen Auftritt ankündigt.

Immer ein Thema ist das große Bäh! im Kinderlied. In seinem ironischen Evergreen "Der Popel" würzt der DDR-Liedermacher Gerhard Schöne das ewige Sehnsuchtsversprechen des Schlagers ("Und irgendwo da hinten, wird sich sicher etwas finden") mit einer leicht melancholischen Note: "Was kann man von der Mama übers Popeln noch erfahren? Sie wird erzählen, dass die früh’ren Popel besser war’n!"


Finger weg vom Nasenloch: Wieso Popeln nicht gut ist


Nicht jeder treibt das Spiel so elegant auf die Spitze wie Matthias Egersdörfer. In einem seiner Soloprogramme unterscheidet der Fürther Kabarettist (also seine Kunstfigur) nicht nur zwischen bubbeln und popeln (ersteres ein eher zaghaftes, unentschlossenes Zupfen und Stochern, zweiteres eine ernsthafte Tiefbohrung unter Zuhilfenahme mehrerer Finger), sondern sinniert auch darüber, dass so ein frisch geschürfter, grün glänzender Diamant ein wohlfeines Geschenk abgibt – und überlegt, wie es wäre, wenn er diesen Supermodel Naomi Campbell aufs Hotelzimmer tragen würde ...

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Die Nase ist der Bohrturm des kleinen Mannes, heißt es. Doch was passiert da eigentlich genau? "Die Nase ist ein Organ, das die Atemluft für die Lunge aufbereitet", erklärt Frank Waldfahrer, Oberarzt an der Hals-Nasen-Ohren-Klinik am Universitätsklinikum Erlangen. "Dazu erwärmt beziehungsweise kühlt die Nase die einströmende Atemluft, befeuchtet sie und filtert sie. Das Nasensekret ist quasi das Ergebnis dieser Filteraktion, da finden sich Partikel, die nicht in die Lunge kommen sollen – weitgehend zumindest. Bei Feinstaub funktioniert das dann nicht mehr."
Rund einen Liter Schleim produziert ein gesunder menschlicher Körper pro Tag, bei einer Virusinfektion – etwa einem Schnupfen – ist es ungleich mehr. Das meiste davon wird automatisch nach hinten weg in den Nasen-Rachenraum abtransportiert. Wir schlucken also ständig ansehnliche Massen von Nasensekret, ohne dass wir das mitkriegen. Jetzt die Frage aller Fragen: Ist Nasepopeln gefährlich? Frank Waldfahrer sieht es pragmatisch: "Wenn die Nase verstopft ist und das die einzige Möglichkeit ist, sie wieder frei zu kriegen, dann spricht nichts dagegen. Was man nicht tun sollte, ist so heftig zu arbeiten, dass es blutet, weil dann entsteht eine Kruste, die es noch schlimmer macht. Und bitte nie mit Gegenständen puhlen! Wenn, dann höchstens mit dem Finger ..."

Ist es schädlich, Popel zu essen?

Nun gibt es da draußen neben "Gelegenheits-", "Genuss-" und "Hobbybohrern" auch explizite "Hungerbohrer". Ist es schädlich, die "Auster des kleinen Mannes" (Gerhard Polt) zu verkosten? Als Mediziner ist Frank Waldfahrer nichts Menschliches fremd. "Was verspeist man? Man verspeist ein Gemisch aus Nasensekret und irgendwelchen herausgefilterten Umweltstoffen. Sinnvoll ist das sicher nicht, einen Nährwert hat es auch nicht. Aber dass dadurch schon mal wer zu Schaden gekommen ist, ist nicht bekannt."


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Das passt ins Gesamtbild. Wenn das Nasebohren seinen eigenen Jahrestag hat, ist das Tabu gebrochen, und selbst das Schimpfwort "Popelfresser" (medizinisch: Mukophagen) zieht nicht mehr. Einem Battle-Rapper jedenfalls dürfte es heute kaum mehr als Beleidigung genügen.
Bleibt die entscheidende Frage, die die Badische Zeitung stellte: Wie begeht man den Tag des Nasenbohrens eigentlich Corona-tauglich? Ganz für sich natürlich, in selbstgewählter Isolation. Ohne Maske. Und nicht vergessen: Vorher Hände waschen!

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